2. Teil, 4. Kapitel, 3. Szene.

Ein Bild auf ihrer Netzhaut: Der winkende, hüpfende Mike. Das zweite Bild: Leere. Eis. Der Mârin ausradiert und weggewischt. Verschwunden unter Wasser.
Simon Segur reagierte, noch bevor dieses zweite Bild in seinem Kopf hell wurde und zerrte an dem Seilende, das er in der Hand hielt. Ein Ruck prallte bis zu seinem Ellenbogen hinauf, dann kippte er nach hinten und schlug hin. Das Seil peitschte zurück und riss ihm eine tiefe, blutige Strieme in die Wange.

Abgeschnitten.

Zerschnitten an der Eiskante.

Das kann nicht sein, dachte Simon, niemals! Im Kopf lachte etwas, seine eigene Stimme raunte ihm zu: Oh doch, Seelord, so eine Bruchkante ist schärfer als dein Messer. Und jetzt renne, Mârin, renn!

Simon warf sich auf den Bauch, rutschte auf der spiegelnden, knisternden Fläche vorwärts und drückte sich mit den Händen ab, um zusätzlich Schub zu gewinnen – als Torpedo aus Fleisch schoss er über das Eis. Fünf Meter. Zehn. Da hielt er inne. Unter Simon, Auge in Auge mit ihm, auf der anderen Seite der gläsernen Wand, trieb Mike, der Bär. Die Strömung hatte ihn von dem Loch im Eis weggerissen und zerrte ihn jetzt wie das Stück Treibgut, das er war, unter dem Eis entlang.

Keine Chance, das wusste Simon.

Das wusste auch Mike. Mit offenen Augen starrte er zu Simon hoch, die Wangen aufgeblasen und prall, die letzte Luft im Mund haltend, so presste der Bär eine Hand von unten an das Eis. Simon legte seine dazu. Fünf Finger auf fünf Finger. Getrennt von einem bisschen Wasser, das der Zufall oder Gott oder ein großer Witzbold in Eis verwandelt hatte, nur ein Mückenschiss gefrorenes Wasser und doch die Grenze zwischen Leben und Sterben.

Mit seiner anderen Hand hämmerte Simon auf das Eis ein, stur und brutal. Aber die Stelle war zu dick. Das Knistern zu klein.

Mike konnte sich nicht länger halten, die Strömung zog ihn mit, er lächelte, oder weinte er? Vermischte er seine salzigen Tränen mit den Tropfen des Ozeans? Mike trieb weiter unter dem Eis dahin, winkte, dreimal Aye, Kap’tai, Simon wird es schwören, Mike, der Bär, winkte ihm durch Wasser und Eis zu als mache er einen letzten Witz, stieß den Rest Atemluft mit einem lautlos blubbernden Schwall aus seinem Mund und sank in die Tiefe.

Direkt weiterlesen

Werbung

3 Gedanken zu “2. Teil, 4. Kapitel, 3. Szene.

  1. Ach Mensch. Das ist traurig. Vermutlich macht es Sinn, dass solch ein Ritt Opfer kostet, aber … Egal, ich trauere nun ein wenig.
    Irgendwo hast Du doppelt „schlug“ im Satz, da stolperte ich.
    Liebe Grüße!

    Like

    1. Ja, ich musste auch ein paar Tränchen wegdrücken – der arme Mike. Ist aber halt notwendig für die Story …
      Danke für den „schlagenden“ Hinweis, habe ich gleich verbessert!
      Liebe Grüße zurück!

      Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s