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Die Stille wog schwerer als brüllende Vorwürfe, sogar der Wind schwieg erschrocken. Simon Segur spürte ihre Blicke auf sich, Nadeln, spitzer als das Eis um sie herum; er merkte wohl, wie ihr Schweigen sich zu bedrohlichen Wolken zusammenzog: knisternde, grollende Energie, ein menschliches Elmsfeuer.
Er spürte die Blicke wie eine Wolke Mykros, aber er wischte sie weg. Fliegen. Joshua hat mich gewarnt, dachte er. Du bist ein guter Anführer, hat er gesagt, aber du darfst nicht zu klug sein. Und jetzt, Seelord? Ja, ich war so verdammt klug. Hätte ich Mike nicht besser kennen, sein lachendes Hüpfen auf dem brüchigen Eis vorhersehen müssen? Die Schärfe des Eises, das nutzlose Seil? Ja und ja und ja, ich hätte wohl. Farwell, Mike.
Schweigend lud Simon sich den verwaisten Rucksack auf, ein letzter Rest Mike, der Bär, den er schleppen wollte, bis ans Ende, bis ans Nirgendwo, bis ans Ziel, wohin auch immer sie das Elmsfeuer führen würde. Vorsichtig setzte er seine Schritte, folgte Mikes Weg über das dünne Eis, das nicht knisterte, oh nein, sondern zu kichern schien unter seinen Füßen. Um das Loch, durch das der Mârin eingebrochen war, machte er einen großen Bogen, schaute zur Sonne, schätze die Richtung ein und lief weiter. Simon blickte nicht zurück. Die anderen würden folgen – eine andere Wahl hatten sie nicht.
Nicht mehr.
Noch dreimal zerriss das Eis unter ihnen in feinen Linien; schnell lernten sie, wann es noch trug, und wann sie doch lieber einen Umweg in Kauf nehmen mussten. Sie marschierten schweigend und langsam durch das weiße Nichts, balancierten ihr Gewicht so gleichmäßig wie möglich und liefen, bis die Erschöpfung alle Wut, jeden Zorn und das letzte bisschen Traurigkeit niedergetrampelt hatte und sie nur noch eins wollten: schlafen.
Und auch die nächsten zwei Tage wurden abgekerbt auf Simons geschundenen Pistolengriff. Das Gebirge am Horizont kam nicht näher, wuchs aber in die Breite und Höhe. Ein Bergmassiv, nicht eiskantig, sondern geschwungen, fast verspielt – und vor allem nicht weiß. Gierig sogen ihre Augen die verschatteten Brauntöne auf, denen sie entgegen stampften, diese Ahnung von Grün.
Land.
Keiner der vier Seelords sagte eine Wort über Mike.
Am Abend des 32. Tages lag Lorielle mit knurrendem Magen neben Theo im Zelt. Sie spielte mit ihrem leeren Zick-Zack herum, ließ den Kopf des kleinen Nahrungsspenders vor und zurückschnappen – ein in schrillem Rot gefärbter Fischmund.
Zick-Zack, schnappte es leer zwischen ihren Fingern, denn ihre letzten Riegel hatten sie vorgestern verzehrt. Lorielle konnte nicht schlafen; sie schob Theos Arm weg, der lang ausgestreckt auf ihre linke Brust drückte, und erinnerte sich an eine große Feier auf der MS Cohiba. Als man Lorielles Kurs, von zwanzig erwartungsgemäß auf drei geschrumpft, das Seelord-Patent überreichte. Zumindest versuchte sie, sich daran zu erinnern.
Zick-Zack. Der rote Fischkopf klappte sein Maul auf und zu. Lorielle schnupperte an ihm, sog den Restgeruch der künstlichen Nahrung ein, modrig und ein bisschen Plastik, aber lecker.
Am Ende der Ausbildung nur noch zu dritt, überlegte sie und war so dankbar für eine Erinnerung, die wirklich echt schien, die einfach wahr sein musste, dass sie sich gierig an das Bild in ihrem Kopf klammerte: Der Kap’tai überreichte ihnen das Patent, lässig die Finger an die Stirn tippend, und einer von den dreien, wie hieß er noch, irgendwas mit dreimal C, war so aufgeregt, dass ihm die Urkunde aus der Hand rutschte, Charlie, ja Charlie Clarence Chesterton, was für ein bescheuerter Name, aber er war nett gewesen, oder? Und der zweite, der die Ausbildung zum Seelord geschafft hatte? Wie hieß der? War es überhaupt ein Mann gewesen oder doch eine Frau? Gab es überhaupt einen Kap’tai, der Patente überreichte? Existierte eine MS Cohiba?
Zick-Zack.
Lorielles Magen knurrte und ihre Erinnerungen lösten sich auf, verwischten wie aufgetürmter Sand unter einer Welle.
Zick-Zack. Ja, die Party nach der Patentverleihung. Theo hatte sich auf sie gestürzt, sie über seine Schulter geworfen und ins D-Deck getragen. Oder war es Charlie Clarence gewesen? Oder niemand? Unten warteten schon die Alten, Veteranen wie Theo – also war es doch Charlie gewesen, der sie der Meute zum Fraß vorwarf: Sofort begannen sie Lorielle abzufüllen. Oh Mann, was hatten sie gesoffen in dieser Nacht.
Zick-Zack.
Und als Taufe, als Aufnahmeritus in den Kreis der echten Mârins, gab es keinen Orden an die Brust, keinen Degen an die Seite, keine schmucke Uniform über die Haut. Jeder frisch gelaichte Seelord bekam eine ganz spezielle Dreieinigkeit ausgehändigt: Ein paar Taucherflossen, seine P 12 und das Zick-Zack. Wieder roch sie an der kleinen Röhre, spürte ihren Bauch hungrig zucken und dachte an Mike. Mike, der Bär, mit seinen schlechten Witzen. Seinem Lachen, das aus dichtem Bart und Haaren herausbrach. Simon, dachte sie, war Schuld an seinem Tod.
Lorielle hatte Hunger. Sie wusste nur nicht, worauf.
Theos Arm schob sich zurück über ihre Brust.
Zick-Zack, klappte das leere Fischmaul.
Oh oh. Jetzt die erste bewusste Disharmonie. Ich krieg Angst…
Übrigens : Hast Du den neuen King schon gelesen?
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Ha, das ist schön (dass man Angst kriegt, also, ähm …)
Du meinst Mind Control? Ja, den erwischte ich schon „auf der Jagd“ in der Stadtbücherei. Kann ihn nur empfehlen, wenn Dir die ersten beiden um Mr Mercedes gefallen haben. Wenn nicht, braucht man den Abschluss (obwohl mir das Buch besser gefiel als die andern zwei) auch nicht unbedingt lesen.
Liebe Grüße!
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Ach stimmt, davon erzählte Du bereits. Warum habe ich das vergessen? Ich lese grad wenig bis nichts; der Schreibflow hat eingesetzt. Yeah!
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Super! Viel Spaß dabei! Dann schwimm mal schön 🙂
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Da ich auf der Seite https://einbuchwiekingsturm.wordpress.com/ keine Kommentierungsmöglichkeit gefunden habe, möchte ich mich hier „niederlassen” – fehlplaziert, ich weiß, aber in besten Absichten. 🙂
Zunächst einmal möchte ich mich bedanken für Deinen Besuch und Deinen freundlichn Kommentar.
Als nächstes werde ich wohl meinen Blogplan ein wenig umstellen müssen, um Zeit zu erlangen, Dein Bücherprojekt zu verfolgen.
Als letztes kann ich Dir einen Tip geben, wie Du den Standard-Link (z. B. aufs Gesichtsbuch) ausknipsen kannst. Auf der Admin-Seite des einbuchwiekingsturm-Blogs findest Du den Menüpunkt „Einstellungen”. Im Untermenü von „Einstellungen” gibt es den Punkt „Teilen”. Die dieserart aufgerufene Admin-Seite listet alle Links auf, die an Beiträge angehängt werden; ziehe den fraglichen Link-Button nach rechts-unten in die graue Deaktivierungsfläche. Einstellungen speichern – und fertig. ^^
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He, vielen Dank aber auch! Sowohl für die Buchprojektverfolgung als auch den Tipp mit den Standard-Links – das werde ich mir nachher mal anschauen. Merci!
Auf Deinem Blog schaue ich schon lange und gern vorbei: Ist mir manchmal zwar ein bisschen zu politisch ( 🙂 ), aber immer wieder sehr schön (erinnere mich da an eine „nachgerüstete Straßenlaterne mit Regenbogen oder die alten Mosaikhefte) …
Liebe Grüße!
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… ich versuche ja, möglichst unpolitisch zu sein. ^_^
Doch manchmal gehen halt die Pferde mit einem durch. 🙂
Auch Dir liebe Grüße!
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