Zum Teufel mit all den Schreibregeln!

Als die ersten Bücher zum Schreiben auf dem deutschsprachigen Markt auftauchten – vom amerikanischen Creative Writing nach Europa geschwappt – war ich begeistert. Eines der ersten, mittlerweile Standardwerk und Klassiker, erschien 1997 beim Verlag 2001: Sol Steins „Über das Schreiben“. Damals (wie heute auch) liebte ich dieses Buch, war unser Kulturkreis letzten Endes doch nach wie vor geprägt von der romantischen Idee des Dichter-Genies, von jenem nur durch den Musenkuss sich entwickelnden Schriftsteller. Mit Sol Stein redete endlich mal jemand Klartext, erklärte das Schreiben zum Handwerk und gab Tipps, Ratschläge und Trainingsaufgaben.

Seitdem sind fast 20 Jahre den Wasserfall der Zeit heruntergeplatscht. Mittlerweile ist die Zahl der Schreibratgeber unüberschaubar geworden, haben sich die Publikationsmöglichkeiten verhundertfacht und der Studiengang „Literarisches Schreiben“ an den Unis Leipzig und Hildesheim etabliert.

Das ist alles sehr schön so.
Aber:
Mittlerweile habe ich auch das Gefühl, dass wir Schreibende vor lauter Bäumen, also Regeln, den Wald, nämlich unsere ureigenste Geschichte (das was wir erzählen wollen) nicht mehr sehen.

Ich habe hier bereits meiner Abneigung gegen „regelkonforme“ Charaktere Luft gemacht. Auch Jutta Reichelt formulierte neulich in diesem Eintrag so kurz wie klug ähnliche Gedanken. Aber wie es scheint, stehen wir damit eher allein. In der geschätzten Mitbloggerwelt auf dem Kontinent des Schreibens dominieren Regeln. So spricht sich Richard Norden in seinem letzten Beitrag prinzipiell und eindeutig gegen zwei Protagonisten in einem Roman aus, weil das nur in epischen Werken funktioniere (obwohl ich finde, dass Matula und Renz in „Ein Fall für Zwei“ durchaus gleichrangig sind). Alexa von „Geteiltes Blut“ empfiehlt hier nur von dem zu schreiben, was man kennt. Marcus Johanus hier mit ebenso großer Berechtigung das Gegenteil. Und so könnte ich beliebig weitermachen.

Um es nochmal deutlich zu sagen: Ich schätze und achte all diese Autoren und Beiträge. Und ich lerne auch von ihnen. Nein, ich bin nicht prinzipiell gegen Regeln und Ratschläge. Aber ich bin gegen eine sklavische Aneignung solcher „Hilfestellungen“, gegen diese inflationäre Überschwemmung von Hinweisen und Zwängen. Denn auf diese Art erlernt man das Schreiben nur so, wie die Künstler im 19. Jahrhundert an der Akademie ihre Malerei: Sie kannten die Anatomie des Menschen, die Pigmente in den Farben, sie lernten Proportion und Perspektive. Aber das ist noch keine Kunst. Ein Monet, ein van Gogh, ein Picasso – die machten etwas völlig anderes. Ein James Joyce hielt sich an keine Regel, ein Kafka ohnehin nicht. Klar, schreibt man fürs Fernsehen oder Heftromane, muss man sich schon aufgrund dieser Genre Konventionen und Regeln beugen. Aber sonst? Kann man wirklich ein generelles „Verbot“ von Adjektiven aussprechen? Was ist dann etwa mit den Gedichten der Droste-Hülshoff, die von genau dieser Wortgruppe leben?

Also zum Teufel mit all den Regeln. Denn letzlich lernt man das Schreiben nur durch zwei Dinge: lesen und schreiben. Durch das Lesen begreifen wir, wie Sprache, Charaktere und Geschichten funktionieren. Und nur durch das Schreiben lerne ich wirklich, wie meine eigene Sprache, meine eigenen Charaktere, meine eigene Geschichte funktioniert. Oder eben (noch) nicht. Ihr werdet das merken. Ganz bestimmt. Vertraut mehr eurem eigenen Gefühl als äußeren Regeln. Vertraut auf die Phantasie. Auf die Kreativität, die eigene, innere Stimme. Schreibt wütend oder traurig, vorwärts oder rückwärts, mit drei Protagonisten oder dreihundert. Wichtig ist nur, dass die Story und die Sprache euch selbst und (im besten Fall) eure Leser berühren.

Sonst nichts.

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20 Gedanken zu “Zum Teufel mit all den Schreibregeln!

    1. Ja, da hast Du natürlich völlig recht. Aber hast Du nicht auch das Gefühl, dass es immer mehr wird mit den Regeln? Das die schreibende Kreativität so, hm, eben „reglementiert“ wird?

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      1. Das hatte ich schon in der Schule….und im Grunde kann man das mit den Vorgaben auf fast alle Lebensbereiche übertragen. Sogar die Lebensführung kann per App abgefragt werden werden….😎

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  1. Ich habe auch den ein oder anderen Ratgeber gelesen und lese sie noch. Aber ich habe schnell gemerkt, dass sich die wenigsten dazu eignen, sich strikt danach zu richten oder sie beim Schreiben zu Rate zu ziehen. Für mich bieten sie eher einen guten Überblick darüber, wie andere arbeiten, wie man es angehen könnte etc.

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    1. Ja, und genauso funktionieren all diese Tipps und Ratschläge wunderbar. Nur, wie gesagt: Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass die Sehnsucht nach Regeln und Formen zu groß geworden ist, und die eigene Leidenschaft,die eigene Fantasie zu kurz kommt.

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  2. Ich stimme dir da zu: Wir sollten über all die Regeln, die es zum Schreiben gibt nicht vergessen, was wir erzählen wollen. Das hast du perfekt getroffen.

    Ich finde es aber auf jeden Fall hilfreich, das 3-Akte-Sehma (jetzt nur als Beispiel) zu kennen, um sich dann entweder bewusst zu überlegen: Ja, ich möchte meinen Roman genau in diese Struktur gießen, oder um sich bewusst dagegen entscheiden zu können. Niemand sollte sich von Schreibregeln dermaßen beeinflussen lassen, dass die Geschichte am Ende nicht mehr die ist, die sie ursprünglich sein sollte. Ich denke aber schon, dass man als Schriftsteller gewisse Regeln kennen sollte bzw. von ihnen gehört haben sollte, um sich bewusst dafür oder dagegen entscheiden zu können.

    Über das zu schreiben, was man kennt – das ist, wie ich auch in meinem von dir zitierten Post schreibe – kein Muss. Es gibt unzählige Möglichkeiten zu recherchieren – im Internet, der Bibliothek, dem Museum usw. Wenn ich aber den Geschmack von etwas beschreiben möchte (obwohl Geschmack natürlich subjektiv ist), ist das leichter und kann schnell authentischer wirken, wenn ich aus Erfahrung berichten kann. Oder – wie in dem anderen Beispiel auf meinem Blog: Eine starke Emotion lässt sich besser beschreiben, wenn ich genau diese oder eine ähnliche schon einmal erlebt habe. Daher ist mein Tipp in dem Blogpost zu authentischen Szenen und Settings, dass es sich einfacher schreibt (und meistens auch schöner liest), wenn der Schriftsteller selbst Ahnung von dem hat, über das er schreibt. Es würde mir beispielsweise schwer fallen, eine Skiabfahrt aus Sicht des Fahrers zu beschreiben: Ich bin in meinem Leben genau ein Mal Ski gefahren, und das ist 20 Jahre her. In diesem Fall würde ich meine Figur lieber einen Marathon laufen lassen. Was einem da die Beine zu sagen haben, kann ich nämlich aus erster Hand erzählen und in ein geschriebenes Gefühl umwandeln.

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    1. Ich meine ja auch nicht, dass Du unrecht hast. Ich fand es nur treffend, dass mir zeitgleich zwei Texte gegenteilige Vorgehensweisen vorschlugen. Und ich habe natürlich mit großer Freude registriert, dass Du ja auch mit keiner Silbe von Regeln und Co, sondern von Tipps sprichst 🙂
      Mir geht einfach dieses Fachsimpeln auf die Nerven – als könne man Kunst aus einem Regelwerk, aus einem Konstrukt konstruieren. Über all den Überlegungen zu Plotstuktur und Setting geht mir die Story, die eigene Geschichte, das Berührtwerden einfach zu sehr unter. Mehr wollte ich nicht sagen.

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      1. Genau so habe ich dich auch verstanden, und habe mich nicht angegriffen gefühlt oder so 🙂 Es war so schön passend, dass mein Beitrag heute kam, und dann direkt deiner, der sich mit Regeln beim Schreiben beschäftigt. Da wollte ich gern noch was dazu sagen, weil dein Beitrag ja auch richtig gut und wichtig ist 🙂

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  3. Deinen Ausführungen stimme ich in Gänze zu. Vermutlich muss man hier aber zwischen Schreiben als Kunstform und Schreiben als Wirtschaftsform unterscheiden. Im Falle von Letzterem, bei dem effektiv ein Produkt zum Zwecke des Amüsements der breiten Masse fabriziert wird, sind Regeln sinnvoll, da diese das Produkt berechenbar machen, damit eher den Gewohnheiten des Durchschnittslesers entsprechen und somit für die Verlage den Verkaufsprozess übersichtlicher gestalten. Wenn man weiß, dass die Menschen einfaches Brot essen, dann backt man solches und umgeht Experimente, welche scheitern könnten.
    Kunst entsteht damit natürlich nicht und das Hauptproblem besteht in der Tatsache, dass durch beständiges Wiederkauen die Literatur als solche nicht vorangebracht werden kann. Modernen Autoren ist aber wohl weniger am Idealismus gelegen, als vielmehr an wirtschaftlicher Absicherung und sozialem Status. Das Schreiben ist entsprechend zu einer ökonomischen Banalität verkommen.
    Ich persönlich halte mich beim Schreiben an keine Regeln. Dies liegt aber wohl einfach daran, dass mir zum einen nicht daran gelegen ist, gefallen zu wollen. Und zum anderen ist das Schreiben als solches für mich lediglich ein Vehikel zur Übertragung der selbst geschaffenen Fiktion, gepaart mit ein wenig geistiger Akrobatik.
    Die Vorstellung eines Romans mit dreihundert Protagonisten weiß mich jedoch zu amüsieren.

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    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar – und meinen Heidenrespekt vor Deiner so klaren und kompromisslosen Haltung. Denn ich möchte sehr wohl auch gekauft und gelesen werden – aber eben ohne mich zu verbiegen oder dem Mainstream nach dem Mund zu schreiben. Da habe ich wohl auch eine höhere Meinung vom „Durchschnittsleser“ wie Du 🙂 Jedenfalls hoffe ich, dass die Zahl der modernen Autoren, denen es nicht nur, wie Du so treffend schreibst, um „wirtschaftliche Absicherung und sozialen Status“ geht, doch nicht ganz so klein ist … Und: Schreiben als „geistige Akrobatik“ ist eine sehr schöne Definition.

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  4. Oups, jetzt habe ich wohl in deinem Beitrag die Rechtfertigung dafür gefunden, dass ich mir weder einen Schreibkurs noch einen einzigen Schreibratgeber jemals angetan habe, komplett aus dem Nichts mein erstes Buch geschrieben hatte und es nach überwiegender Lesermeinung gar nicht so schlecht geworden ist. Und ja, du hast Recht, man lernt hauptsächlich vom Schreiben (beim Zweiten habe ich einiges anders gemacht) und vom Lesen anderer Bücher. Ob ich mir jemals in meinem Leben einen Schreibratgeber reinziehen werde? Ich weiß es nicht, aber denke eher nicht, solange ich selbst mit meinen Büchern zufrieden bin.

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    1. Freut mich doch, dass ich da behilflich sein konnte 🙂
      Was ich Dir sehr empfehlen kann, falls Du doch mal Lust auf sowas verspürst, ist Stephen Kings „Über das Leben und das Schreiben“. Und das meine ich nicht nur, weil ich erklärter Kingfan bin, sondern weil der ehrlich und direkt schreibt, was er übers Schreiben denkt, autobiografisch und nicht verallgemeinernd ist – und dennoch einen auch für jeden anderen Autoren nützlichen Blick in den Kingschen „Werkzeugkasten“ (wie er das nennt) gewährt.

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      1. Neu ist die (leider) nicht, nur eine Leseprobe aus dem 4-Novellen-Band „Zwischen Nacht und Dunkel“, der vor vier, fünf Jahren oder so rauskam. Gefiel mir gut.

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  5. Na, schön rebellisch hier! Ich sage das extra so, weil ich merke, besonders in den letzten Monaten, dass auch die Regelsuche in der Kunst sehr stark Typsache ist. Einer, der sowieso eher intuitiv durchs Leben wandelt, und damit meist in den Genuss aller Geschmacksrichtungen kommt, die es zu bieten hat; wird sich auch an keine Regeln halten, wenn er zeichnen, komponieren oder eben schreiben will. Von mir aus auch kochen. Geht man hier nicht experimentell zur Sache, wird das nichts. Vielleicht stellt das Kritiker zufrieden (Wer sind die überhaupt und will ich denen gefallen?), aber es übergeht sicher auch das, was aus meinem Inneren kommt.
    Der Punkt, um den es geht, ist darüber zu stehen. Auch ich lese Blogs mit Ratgebern, Tipps, Workshops. Im besten Falle nimmt man sich das raus, was man gebrauchen kann und geht dann weiter. Das hat aber auch was mit Selbstvertrauen zu tun, ganz viel sogar. Die Unfähigkeit, auf seinen Bauch zu hören, und dass wir es immer mehr verlernen, ist ein Phänomen, welches sich in allen Aspekten des Lebens wiederfindet. Da mag ich jetzt gar nicht anfangen …
    Ich liebe nach wie vor Bücher übers Schreiben, die viel mit dem Herzen zu tun haben, Autobiographien zum Beispiel. Findet man da Regeln? Nein, da findet man nur Leben.
    Im Übrigen lese ich vier Einträge über Regeln, hake das ab und lese dann Blogs wie Deinen hier und alles ist gut. 🙂
    Liebe Grüße, Julia

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    1. Ja, Typsache, da ist schon was dran. Aber auch irgendwie Zeitgeist, denke ich. Kann mich noch erinnern, wie bei meinem Germanistikstudium die Profs uns geschoten haben, weil wir so „brav“ wären. Weil wir „nur“ lernen und nicht mehr „Kritik ausüben“ wollten – wie sie in den 60ern. Und heut‘ ist man nicht nur brav, sondern auch, wie Nocthurn sagt, wieder zu sehr an Haus und Auto interessiert.
      Dazu kommt die allgemeine Unsicherheit: Wir haben heute mehr Möglichkeiten als je zuvor, aber aus dieser Freiheit ergibt sich zwangsläufig Unsicherheit und Unübersichtlichkeit. Da helfen halt Regeln.
      Insofern: Ein Hoch auf’s Bauchgefühl. Auf die kreative Leidenschaft. Auf die innere Stimme 🙂
      Liebe Grüße zurück!

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