Was ich von meiner Mutter noch weiß

Als ich vor einem halben Jahr diesen Text über meinen Vater schrieb, wusste ich, dass ich so auch den nächsten Geburtstag meiner Mutter feiern würde. Was ich nicht wusste: Meine Erinnerungen an sie würden schwieriger zu formulieren sein. Würden noch mehr weh tun. 

Mama002Mutter. Mama. Ma. Die einfachste Silbe der Welt, die erste zu artikulierende, einfach den Mund auf und einen Ton raus: Ma. Heute, am 31. Januar, ist ihr Geburtstag. Seit 22 Jahren ist sie tot. Wie sich sowas denken, wie sich sowas hinschreiben lässt.

Anders als meinen Vater, den ich in vielen Einzelbildern erinnere, ist sie nicht so deutlich in meinem Kopf. Dafür umso deutlicher in meinem Herz. Sie ist noch stärker Gefühl. Eines von Glück und Sicherheit. Sie war eben immer da, war alltäglicher als die väterlichen Auftritte. Passiver vielleicht auch. Denn ich wuchs in einer Zeit auf, als die Mütter noch Zuhause bei den Kindern blieben, nicht das zweite Gehalt aufbringen mussten in einer Welt, die von uns spöttisch „kleinbürgerlich“ genannt wurde. Und die rückblickend doch – für meinen Bruder und mich – Geborgenheit, Nähe, Selbstverständlichkeit bedeutete.

Meine Mutter. Noch im Weltkrieg aufgewachsen. Allerdings in tiefster bayerisch-fränkischer Dörflichkeit. Weit entfernt von Bomben und Luftschutzkellern, dafür umso näher am Schatten des Katholizismus. Das Haus ihrer Eltern lag direkt neben der Kirche, auf einem kleinen Hügel. Dorfmitte, Seinsmitte. Und den Hügel runter, an den Fuß der Kirchentreppen gekuschelt, die Kneipe: Dorfmitte Nummer zwei. Die Kirche war noch uneingeschränkte Herrscherin in meiner Mutter Zeit. Die Glocken dröhnten viertelstündlich, den ganzen Tag und die ganze Nacht.  Dreimal musste sie, morgens, mittags, abends, durch die Pforten zum Gottesdienst. Runter auf die Knie zum Beten. Beim Essen Zuhause am großen Tisch wurde nicht nur das Vaterunser heruntergerattert, sondern auch das Evamaria hinterher. Rosenkränze in den Händen, die Abkanzeleien des Priesters in den Ohren. Dennoch hatte meine Mutter ihren Spaß. Entschlüpfte immer wieder der Kirche. Trieb ihre Späße. Tobte sich aus in Feldern und Wäldern. Hatte beste Freundinnen. Lachte viel. Und ergriff doch die erste Möglichkeit zur Landflucht. Nahm eine Stelle in der Großstadt an als Haushälterin. Hatte für ihr Leben lang genug vom Dorf, verliebte sich erst in die Stadt, dann in meinen Vater. Behielt von ihrer Heimat nur das fränkisch-rollende „R“ in der Kehle und manche Wörter. „Fei“ zum Beispiel, ein exotisches Füllwort, eine Betonung aus Buchstaben: „Jetzt ist es fei gut!“

Mama006Dann ging es, wie es eben so ging in den 60er und 70er Jahren. Mein Bruder wurde geboren, eine kleine Dreizimmer-Wohnung gemietet, ein Familienleben gestartet. In dieser Wohnung lebte sie, bis sie 1996 starb. Und war da für uns, mit ihrem Lachen. War präsent in ihrer Wärme. Gott, wie habe ich es geliebt, mit ihr zu spielen. Oder im Winter Plätzchen zu backen (von dem Rest Teig, den ich nicht verschlungen hatte). Oder ihre Hand auf meinem Kopf zu spüren, unfassbar leicht und schwer zugleich. Mit ihr einkaufen zu gehen, durch die Straßen zu bummeln. Oder ihr beim Kochen zu helfen oder nur zuzusehen. Mein Lieblingsessen, nie mehr geschmeckt seit 22 Jahren. Ihr Lachen, nie mehr gehört seitdem. Ihre Augen, nie mehr blitzen und funkeln gesehen.

Meine Mutter war selbstbewusst, zog sich gerne gut an, probierte Hosen und Röcke und Anzüge und Hüte und Schals und Schuhe. Sie lachte so gern. Lag so gern in der Sonne, obwohl sie sich leicht einen Sonnenbrand holte. Erst spät lernte sie ihre persönliche Erst-mal-im-Schatten-dann-in-die-Sonne-Technik, mit der auch sie endlich braun wurde. Da wir keinen Balkon hatten, öffnete sie im Sommer einfach das größte Fenster im Wohnzimmer und legte sich mit Bikini und Handtuch auf das schmale Sonnenrechteck am Boden.

Meine Mutter. Oft kam die liebste Nachbarin von oben auf ein Glas Sekt. Piccolo trinken. Die kleinen Fläschchen immer auf Vorrat im Kühlschrank, neben Papas Dosen voller Maden zum Angeln. Vergangene Welten. Nie mehr. Freunde hatte sie nicht viele, wenn, dann wurde Rommé gespielt. Der 31. Januar, das war bei uns auch immer Zeugnis-Ausgabe in der Schule. Ein Geburtstags-Geschenk frei Haus für sie, so unsere Zensuren gut waren.

Meine Mutter. Hatte ein Bein, das kürzer war als das andere. Machte ihr später zu schaffen. Hatte zwei große Operationen; und wie gräßlich ich mich fühlte, als sie mich, aus der Narkose erwachend, verwirrt und glasig anschaute. Wie gräßlich ich mich fühlte, wenn ich mal den Muttertag vergaß.

Sie war froh, als mein Bruder und ich aus dem Haus waren. Andere Zeiten eben, da war die Mutter noch nicht die beste Freundin, da war sie Mutter. Fand ich klasse. Irgendwie. Von ihr habe ich meine Grübchen und die spitze Nase. Und mein Urvertrauen in die Welt.

Meine Mutter. Sie hatte Pläne und Träume. Sie wollte keine Hausfrau sein. Wollte viel lieber studieren und ein Instrument lernen. Hat nichts davon verwirklicht. Konnte nicht. Denn so schön wir Kinder diese kleinbürgerliche Familienstruktur auch erlebten, so Mama23aklebrig und eng war sie für viele Frauen. Das Bild rechts wirkt auf mich fast symbolisch, wie sie da hockt zwischen meinem Bruder und mir und ihrem das Foto schießenden Mann: nicht eingesperrt, nein, aber eingeschränkt.

Mama rebellierte nicht, fand aber ihre Freiräume und Türen. Zog an, was ihr gefiel, was man damals „pfiffig“ nannte. Suchte sich Jobs, als mein Bruder und ich „aus dem Gröbsten raus“ waren, egal ob putzen oder babysitten. Fing an zu reisen. Fand neue Kontakte. Sie hielt sich fit mit einem Aluminiumgestell an blauer Plastikplane. Auf die legte sie sich rücklings und trat mit ihren Füßen in diese übergroßen Pedale – in Fitness-Studios ging damals noch keiner. Und sie lernte Schwimmen. Mit 45. Besuchte einen Kurs im Hallenbad, trainierte aber auch Zuhause, legte sich dazu mit dem Bauch auf einem Hocker und machte Schwimmbewegungen in der Luft. Ich zeigte ihr, wie sie die Arme bewegen sollte. Sie schwamm. Mit rollendem „R“ und ihrem wunderbaren Lächeln.

Ein bescheidenes „Ich will“, ein winziges Stück Lernen und Studieren – gewiss. Aber ich fand’s großartig. Finde es noch.

„Jetzt ist es fei gut“, höre ich sie sagen, und sie schwimmt mir davon.

Ich vermisse dich.

Happy Birthday, Mama!

Mama004

 

39 Gedanken zu “Was ich von meiner Mutter noch weiß

  1. wie wunderschön-traurig-bewegend. so innig.
    ganz wunderbar geschrieben, lieber simon. ich hab es in einem rutsch „verschlungen“.
    deine worte und gedanken werden irgendwo bei ihr ankommen, da bin ich ganz sicher.
    ❤ -liche grüße zu dir!

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    1. Liebe Diana, meinen allerherzlichen Dank. Auch ich glaube – verrückt oder nicht 🙂 – dass meine Gedanken „irgendwo“ ankommen.Und für mich ist die Erfahrung dieses Textes, dass „Traurigkeit“ auch sehr schön sein kann. Ganz liebe Grüße zurück!

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    1. Ich sage meinen Dank! Hommage kommt ja von „homme“, und ich finde es einfach schön, wenn geliebte Menschen aus der Vergangenheit auch hier in der neuen Internetwelt einen Platz finden. Ganz liebe Grüße für Dich!

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  2. Ich lese das Kind. Ich lese den erwachsenen Mann, der weiß,was Mütter oftmals nicht verwirklichen können. Ich lese viel Liebe und sehe Grübchen und höre perlendes Lachen! Danke Simon, ffür diesen ehrlichen Text,
    herzlichst, Ulli

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    1. Liebe Uli, ich bin es der (mal wieder) zu danken hat für Deine schönen Zeilen! Tatsächlich mischen solche Erinnerungen Kind und Erwachsenen auf eine traurig-schöne Weise.
      Ganz, ganz herzliche Grüße zurück!

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      1. „die“ wurde zu „der“ korrigiert – was für ein merkwürdiger Tippfehler. Meinen Dank für den Hinweis und erneut liebe Grüße!

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  3. eine sehr schöner und anrührender text… es sind worte, in denen ein sich-wiederfinden leicht ist, bei aller unterschiedlichkeit und individuellem erleben. Die großer verletzlichkeit der liebe auf der einen und die heilsame erfahrung von ihr auf der anderen seite sind treue wegbegleiter; zu lieben und geliebt zu werden ist meines erachtens die wesentlichste aller erfahrungen.

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    1. Wie schön, dass Dir der Text gefällt, dass er, so persönlich er auch ist, ein Wiederfinden möglich macht. Und aus tiefstem Herzen stimme ich Dir zu: Unterm Strich ist Liebe das einzige, das zählt.
      Ganz herzliche Grüße und meinen Dank!

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  4. Ein wunderbarer Beitrag. Ich bin tief bewegt und habe – obwohl das selten vorkommt – Tränen in den Augen. Wie schön und offen Du über Deine Mutter schreibst. Und wie liebevoll. Meine Eltern sind noch beide am Leben, wohnen 20 Minuten entfernt, und ich bin so glücklich, dass ich sie noch habe.
    Vielen Dank für diesen Blick in Dein Innerstes.

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    1. Liebe Andrea, ganz, ganz lieben Dank für Deine Anteilnahme und Deinen Kommentar – das ist berührend. Und ich beneide Dich – umarme Deine Eltern 🙂
      Mit vielem Dank zurück und lieben 1.Februar-Grüßen!

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  5. Schön, wie es dir wieder mal gelungen ist, das schwer Sagbare, so in Worte zu fassen, dass eine große Lebendigkeit entsteht. Mich hat der Text sehr angerührt und Erinnerungen an meine eigene Mutter wachgerufen, derer ich mir kaum noch bewusst war. Liebe Grüße, Joachim.

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    1. Lieber Joachim, wie so oft meinen Dank für Deine Zeilen. Freut mich sehr, dass Dich der Text berührt und eigene Erinneungen wieder geholt hat. Das ist das Großartige an Literatur: So individuell sie ist, so universal ist sie auch … Ganz liebe Grüße zurück!

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  6. seit ich Mutterbin, bin ich emotionaler und musste jetzt ein paar Tränen wegwischen 🙂 Ich hoffe, mein kleiner Junge wird sich später auch so an mich erinnern, nur dass ich ein paar berufliche Träume noch verwirklichen will. Faszinierend, dass man sich noch an dieBerührungen erinnert.. danke für den schönen Text

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    1. Auch Dir kann ich nur meinen Dank sagen für Deinen schönen Kommentar. Und Dir natürlich viel Erfolg wünschen bei Deiner Verwirklichung – da leben wir glücklicherweise in einer anderen Zeit, die das doch leichter möglich macht als früher… Habe gerade mal bei Dir geschaut … da muss ich doch bald mal ein paar der Rezepte nachkochen 🙂
      Ganz liebe Grüße!

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  7. Ein schöner persönlicher Text. Ich habe mich in Deinem Text wieder gefunden, denn ich bin auch während des 2. Weltkriegs auf die Welt gekommen, allerdings in der DDR, nach einer dramatischen Flucht aus Schlesien.

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    1. Meinen allerherzlichen Dank für Deinen Kommentar. Das ist so schön, dass nicht nur die „Kinder“ sich im Text wiedererkennt, sondern auch die „Mütter“. Ganz liebe Grüße und Dir noch viele silbernen Lyrikperlen wünschend!

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  8. Wunderbar, lebenstief, liebe- und würdevoll …
    Dein Text hat mich zum Weinen gebracht!

    Gerade gestern war meine Mutter bei mir zum Geburtstagsbesuch gewesen, ich winkte ihr vom Fenster aus nach, und sie winkte munter und lächelnd zurück (wir haben eine winkende Familientradition), dann ging sie weiter und mein Blick folgte ihrer kleinen Gestalt, ihrem silberweißen Haar bis sie meinem Blick entschwand. Ganz bewußt, dankbar und wehmütig fragte ich mich, wieviele Jahre ich sie wohl noch „haben“ werden darf … Seit dem Tode meines Vaters vor 18 Monaten hat sich der Kontakt zwischen meiner Mutter und mir (ich bin Einzelkind) intensiviert und ich „rette“ mir schon mal wenigstens die Rezepte meiner mütterlichen Lieblingsspeisen. 😉

    Ich bin felsenfest bzw. flügelfest davon überzeugt, daß Deine Mutter Deinen Text mitliest, ja, Dir vielleicht sogar beim Aufschreiben über die Schulter geschaut hat.

    Als ich im August 2016 die Trauerfeier für meinen Vater geschrieben habe und einen seiner Lieblingstexte von Rumi abtippte, spürte ich absolut deutlich seine zustimmende Präsenz an meiner Seite …

    Herzensgruß von mir zu Dir

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    1. Beste Ulrike, meinen tiefen Dank für Deinen schönen Gedanken und Deinen Zuspruch! Ach, ist das schön: eine winkende Familientradition, Deine bewusste Dankbarkeit, Deine „Rettungen“ der Lieblingsrezepte. Das ist wirklich ein toller Umgang!
      Ein ganz herzlicher Herzgruß von mir zurück zu Dir!

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