Schläge und Küsse – Paul Auster über Kritik

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Paul Auster (rechts) mit Amoz Oz, 2008, Foto von David Shankbone via Wikipedia

Paul Austers Bücher begleiten mich schon lange. Seit mir Anfang der Neunziger Jahre sein Roman „Stadt aus Glas“ in die blätternden Finger fiel, greife ich immer wieder zu seinen Werken. Sie überzeugen mich sprachlich und auch in ihrer gekonnten Mischung aus autobiografischem Erinnern, Zufallsereignissen und mystischen Einbrüchen – eine Melange, die mir sehr gefällt. Als dieses Jahr Austers mammutöses 1259-Seiten-Opus „4321“ erschien und von der Kritik gefeiert wurde, war ich neugierig und wurde nicht enttäuscht. Und wie so oft in Austers Büchern geht es auch in „4321“ immer wieder um Literatur und das Schreiben.

Um das nachfolgende Zitat zu verstehen, kurz die inhaltliche Rahmung: Der gerade mal 14-Jährige Ferguson schreibt seine erste Kurzgeschichte (über ein Paar denkender und fühlender Schuhe) mit dem Titel „Sohlenverwandte“. Er zeigt die Story seiner Lehrerin Mrs. Baldwin, die negativ urteilt, aber auch seinen belesenen Verwandten – die sich begeistert äußern. Der junge Schriftsteller macht sich daraufhin folgende Gedanken:

Derselbe Text, unterschiedlich wahrgenommen von verschiedenen Augen, verschiedenen Herzen, verschiedenen Gehirnen. Es war nicht mehr so, dass ein Mensch geschlagen wurde, während ein anderer geküsst wurde, sondern jetzt wurde ein und derselbe Mensch geschlagen und geküsst, so lief das also, erkannte Ferguson, und falls er vorhatte, die Geschichte auch anderen Leuten zu zeigen, musste er sich darauf gefasst machen, genauso oft geschlagen wie geküsst zu werden oder für jeden Kuss zehn Schläge zu bekommen oder hundert Schläge und keinen einzigen Kuss.
(Paul Auster, 4321, Rowohlt Verlag, Hamburg 2017, S. 396)

Großartig, oder? Denn genauso ist das mit der Kritik: Gebt Eure Geschichte hundert Menschen zu lesen, und alle werden ihre eigene Meinung haben, denn alle haben „… verschiedene Augen, verschiedene Herzen, verschiedene Gehirne“. Bei Kritiken und Rezensionen wird alles dabei sein: Ohrfeigen und Unverständnis genauso wie Umarmungen oder Jubel. Das ist eben so. Wie viel Herzblut wir auch immer in unseren Text gesteckt haben – manche werden nur hämisch lachen. Wie sehr wir an unseren Geschichten auch zweifeln – manche werden sie hoch schätzen und lieben. Wir können das nur akzeptieren. Wir können nur, wie Paul Auster seinem Ferguson in den Mund legt (und Auster weiß, wovon er redet, denn seine „Stadt aus Glas“ wurde von knapp 20 Verlagen abgelehnt), wir können uns einzig „… darauf gefasst machen“.

Bei mir hat es schon einige Jahre gedauert, bis ich mit Kritik gelassen umgehen konnte – jetzt freue ich mich auch an negativen Äußerungen, so der Tonfall respektvoll und die Argumentation nachvollziehbar ist. Wie geht Ihr mit Kritik an Euren Texten um? Nehmt Ihr sie an? Lässt sie Euch kalt? Was macht ihr, wenn hundert Leser hundert unterschiedliche Meinungen und Wünsche haben?

© Foto: David Shankbone, via WikiCommons, Link

 

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25 Gedanken zu “Schläge und Küsse – Paul Auster über Kritik

  1. „…musste er sich darauf gefasst machen, genauso oft geschlagen wie geküsst zu werden oder für jeden Kuss zehn Schläge zu bekommen oder hundert Schläge und keinen einzigen Kuss.“ … wunderbar. Und wenn man es trotz Risiko dennoch tut, dann … muss es Leidenschaft sein :o) … Sogar von der Häme kann man noch was lernen: nämlich, dass sie einen nicht umbringt, und weiters, den eigenen Blick zu schärfen: was will ich wirklich tun, sagen, trotzdem? Was gibt mir die Kraft, trotzdem weiter an das zu glauben, was ich tun, sagen, ausdrücken will? Usw. … Konstruktive Kritik lässt dich wachsen. Schlicht und ergreifend. Sie zeigt auch, dass dein Werk den Kritiker so berührt hat, dass er sich ernsthaft damit auseinander setzt. Wow. Is‘ doch was. :o) :o) :o) Und es setzt dich in Erstaunen, wieviel in einem Text „gesehen“ wird, an das du selbst beim Schreiben niemals dachtest … danke für den Artikel!!!! Herzliche Grüße!

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    1. Ah, da sagst Du was: Wenn sich jemand – und sei’s negativ – mit unserem Text auseinandersetzt, dann muss dieser Text auch berührt haben! Und auch da kann ich nur mit dem Kopf nicken: Schon erstaunlich, wieviel manchmal „hineingelesen“ wird 🙂
      Freut mich, dass das Zitat Dir gefällt! Und ganz herzliche Grüße zurück!

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      1. Nicht hinein-, sondern herausgelesen, lieber Simon; wenn es der Text hergibt, auch wenn du es nicht schreiben wolltest, so steht es doch drin … man verachte das mitschreibende Unbewusste nicht!

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  2. Hüstel … momentan muss sich eher der Leser bzw. das Lesungspublikum vor mir, dem Autor, hüten! Meine letzte Lesung zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen – war schön! Für mich, die Zuhörer hätte ich aber lieber nach Hause geschickt! Ein aufmerksames, schmunzelndes und zahlendes Publikum. Bin ich undankbar? Ich habe jahrzehntelange Leseerfahrung und es inzwischen satt, dass kulturinteressierte Frauen in der Menopause, deren Kinder erwachsen sind, ihre Männer mit schleifend auftauchen, um etwas geboten zu kriegen. Hoffentlich was Nettes! Dass sie so etwas auf dem gleichen Level hätten schon vor 20 Jahren hören können, ist der breiten Masse nicht geläufig. Ich hab Lesungsfrust …

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    1. Hm, Lesungen ohne Publikum – hast Du schon mal an Hörbücher gedacht? Da könntest Du lesen, Deine Freude daran haben und keinen Ärger mit dem Publikum. Mit eigenen Sounds oder eigener Musik – Du bist doch da sehr experimentierfreudig in die Richtung.
      Davon abgesehen hoffe ich, dass Dein Lesungsfrust nicht lange anhält – ich finde den Kontakt mit meinen Lesern (egal ob interessierte Frauen oder gelangweilte Männer) eigentlich immer toll.
      Liebe Grüße!

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      1. Bitte genau lesen! Es ist vom gleichen Level die Rede – also vom Niveau! Das war schon immer so, auch vor 20Jahren, aber keiner hat’s behalten oder sich gemerkt oder in dieser Zeit ist keine Fangemeide gewachsen. Die Texte sind stets frischer als die Brötchen beim Bäcker. Und überhaupt: Mich nerven nicht nur Frauen in der Menopause, sondern auch jene, die hier als ihr Profilbild nicht ihr natürliches Gesicht zeigen, sondern eine Gipsfigur hinstellen oder was immer das auch ist …

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      2. Hm, lieber Christoph, da hat die werte Ule aber sehr recht: Warum eigentlich so gefrustet und genervt? Was ist so schlimm an einem Publikum, das zum Teil einfach nur unterhalten werden will und sich „hoffentlich was Nettes“ wünscht? Es gibt schon, denke ich, genug darunter, die auch die Literatur und die Kraft der Sprache verstehen und lieben … Dabei fällt mir Handkes Publikumsbeschimpfung ein 🙂
        Wünsche einen erholsamen Sonntag!

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      3. Besser genervt als achtsam und nachhaltig und vegan in sich ruhend … Wer Anstrengungen auf dem Weg zu etwas Neuem scheut, sollte besser auf seiner Couch sitzen bleiben. Ok. Genug. Ich bitte um Entschuldigung, ich habe zur Zeit eine dünne Haut. simonsegur hat Recht: Peter Handke ist mir als erster eingefallen. 🙂 Und es tut mir leid, Deinen Beitrag zum Thema wie geht ein Autor mit Kritik um, in ein Sidekick wie geht ein Autor mit Publikum um verbogen zu haben.

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      4. Abermals kann ich Ule nur recht geben: Auch ich fand Deinen ersten Kommentar nicht nur spannend, sondern auch passend. Schließlich kommt die Kritik ja vom Publikum 🙂
        Habt noch einen hoffentlich wunderbaren Sonntag!

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  3. toller beitrag, tolles zitat!
    ich gehe mit kritik inzwischen gelassener (als am anfang) um, natürlich kommt es auch sehr auf den ton an. manches an kritik kann ich nachvollziehen, und nehme ich an, manches nicht. ich lasse mich jedenfalls nicht mehr so leicht beirren. oder bequatschen. glücklicherweise ist mein selbstbewusstsein gewachsen! 🙂
    danke hierfür und liebe grüße!

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  4. Freut mich, dass das Zitat Dir gefällt 🙂 Und Du sprichst einen zentalen Punkt an: Dass wir mit Kritik umzugehen lernen, ist das eine. Aber das andere ist, sich nicht – etwa durchaus auch gutgemeint – bequatschen und beirren lässt.
    Ganz herzliche, momentan gewitterumtoste Grüße zurück!

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  5. Gefällt mir sehr – ja, ich bin bekennender Austerfan (wenn nur Baseball nicht immer sooo wichtig wäre 😉 ) und das Zitat sagt es doch: bleib bei dir, egal was andere meinen – das ist wohl der einig mögliche Weg, ich habe lange dran gekaut!
    Ich danke dir und grüße dich herzlich
    Ulli

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  6. Hat dies auf Schreiben beflügelt ! rebloggt und kommentierte:
    Als Schreibberaterin zucke ich immer, wenn Bücher nur nach feuilletonistischen Kriterien aufgenommen werden. Aber es geht auch anders… Simonsegur stellt uns in seinem Blogartikel einen Ausschnitt von Paul Auster vor, den ich hier reblogge. Viel Grüße aus der Sommerpause von Sudi

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  7. Solche Einblicke, wie Autoren ihr Schreiben und Leserreaktionen darauf empfinden, interessieren mich immer sehr. Zu wissen wie andere fühlen, nimmt etwas von der eigenen Einsamkeit in der Schreiberei.
    Differenzierte Kritik an meinen Texten freut mich sehr, egal ob zustimmend oder ablehnend: ich schätze es, wenn Menschen mir einen Teil ihrer Zeit und Gedanken schenken, lesend und dann auch noch kommentierend.

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    1. Ja, diese Reflexionen der „großen“ anderen empfinde ich auch als hilfreich und schön – und sie machen Spaß 🙂
      Ja, die differenzierte Kritik – irgendwie schade, dass sie nicht öfter auftauchen mag. Ich weiß noch, wie ich die erste Einsterne-Rezension bei Amazon abbekam, wo der Rezensent mich übelst fertigmachte. Schon sein Titel (ich hab grad masochistisch nachgeschaut) lautete: „Extrem langweilig und kein guter Schreibstil“. Ich meine, man kann mir ja einiges vorwerfen – aber schreiben kann ich 🙂 Aber so ist das eben – das war einer der Austerschen Schläge. Dafür gibt’s und gab’s hier und auch von Dir viele Küsse. Meinen herzlichen Dank dafür 🙂 !!

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