In Härtlingschem Gedenken

Letzte Woche ist Peter Härtling gestorben.
Auf unserem Bücherregal, ganz oben, thront der dtv-Nachdruck der Weimarer Ausgabe von Goethe.

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Zwei Aussagen, die nur für mich eine Verbindung haben und folgende Geschichte erzählen:

Ich traf Peter Härtling nur ein einziges Mal, vor 25 Jahren war das, drei Stunden lang, und damals hatte ich kurioserweise noch nie ein Buch von ihm gelesen. Obwohl schon immer leserattend, waren mir seine Kinderbücher nie in die Finger gelangt (was vielleicht auch ganz gut war, da ich sie als Junge sicher viel zu moralisch gefunden hätte). Seine erwachsenen Bücher dagegen, die begann ich erst nach diesem Abend zu lesen.

Mein Ich (oder zumindest mein literarischer Verstand) ist praktisch großgeworden mit einer Radiosendung des Hessischen Rundfunks, die von 1975 bis 2015 ausgestrahlt wurde und ganze Generationen in ihrem Lesen beeinflusst haben mag. Ich weiß nicht, ob „Literatur im Kreuzverhör“ über Hessen hinaus bekannt ist: eine Quizsendung, die trefflich auch „literarische Schnitzeljagd“ genannt wurde. Texte wurden dort vorgelesen, deren Autorschaft erraten werden musste.

Etliche Jahre lauschte ich gebannt – meist mit Kopfhörern, da unsere Anlage natürlich im Wohnzimmer stand und dort der Fernseher lief – dieser um 21.00 Uhr beginnenden Sendung. Die Peter Härtling moderierte, all diese unglaublichen 40 Jahre lang.

Ich brauchte einige Zeit, um mich an seine Stimme zu gewöhnen, diesem gleichzeitig kraftvollen, soneren, aber eben auch fast zärtlichen Klang. Mir war der Mann viel zu langsam – ich dachte oft, jetzt schläft er gleich ein wie Professor Hastig in der Seesamstraße. Erst nach vielen lauschenden Stunden wurde mir klar, dass Härtling nicht behäbig, sondern bedächtig sprach, nicht einschlafend, sondern nachsinnend.

Am Ende jeder Sendung wurde ein letztes Rätsel verlesen, dem sich die Hörer briefeschreibend widmen durften. Wessen Antwort Peter Härtling am besten gefiel, der wurde in die nächste Sendung als Studiengast eingeladen. Mich holte er nach meinem dritten Brief an „Literatur im Kreuzverhör“.

Und so saß ich dann eines Abends im Sommer 1992 gegen 20.00 Uhr in einem Studio des Hessischen Rundfunks, ich, Anfang zwanzig, die ersten Germanistik-Semester mit der Suche nach den Nebenfächern vertrödelt, ohnehin schüchtern, jetzt sehr aufgeregt, leicht schockiert vom großen, runden Gesicht Peter Härtlings, eingeschüchtert von seiner übergroßen Brille und nicht weniger von Professor Volker Bohn, in dessen überfüllten Literatur-Vorlesungen an der Frankfurter Uni ich schon gehockt hatte und der ganz im Ernst propagierte: „Wer nicht täglich 1000 Seiten liest, wird nie ein ernsthafter Germanist.“

Hyperventilierend saß ich zwischen diesen Autoritäten – die Expertenrunde wurde komplettiert von Manfred Ahmend und Klaus Schäfling – und betete an sämtliche Götter, dass ich nicht wie eine gesprungene Schallplatte zu stottern beginnen würde. Hilfreich war’s da auch nicht, dass der Tontechniker auf der anderen Seite der Glaswand zunehmend genervt mehrmals den „Herrn im karierten Hemd“ bat, doch bitte näher ans Mikro zu kommen und lauter zu sprechen. Ja, ich trug damals noch karierte Hemden.

Nur Peter Härtling rettete mich vor dem Zusammenbruch. Freundlich, bestimmt, lächelnd. Plaudernd, eine ganz besondere Art von Ruhe verbreitend. Ein echter Humanist eben, wie nur Peter Härtling einer war. Ich meine, ich kannte den Mann nicht, aber ich spürte die Höflichkeit und Liebe, die er seiner Umgebung, der Welt, der Literatur gegenüber ausstrahlte.

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Härtling im Gespräch mit Marita Hübinger, 2003, Copyright: Das blaue Sofa / Bertelsmann

Nun, die Sendung wurde für mich zum Desaster. Ich erriet keinen einzigen der vorgelesenen Texte, schlimmer noch, kannte meist noch nicht einmal die AutorInnen, wusste keinen sinnvollen Satz beizutragen, stammelte ein „Ich weiß nicht“ nach dem anderen ins Mikro. Nach der dritten Runde erbarmten sich die Experten und quälten mich nicht mehr mit Fragen, während ich auf meinem mit Glühkohle gefülltem Studiohocker hockte. Sie diskutierten unter sich weiter, und der Tontechniker hatte wahrscheinlich schon längst das Mikro vom „Herrn im karierten Hemd“ abgestellt. Volker Bohn – welch wunderbare Geste – war so lieb, mir irgendwann einen Spickzettel rüberzuschieben, damit ich wenigstens einmal den richtigen Namen aufsagen konnte – aber das lehnte ich natürlich heroisch ab. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Das Thema damals war aber auch ein verdammt schwieriges: Es ging um Geschwister von Autoren. Etwa Adele Schopenhauer (Teufel, ich hatte damals kaum was von Arthur gelesen, geschweige denn von seiner Schwester) oder um die Schwester von Georg Trakl. Dennoch: Dieser Abend gehört zu den peinlichsten Erlebnisse meines Lebens. Wohl kaum ein Gast in den 40 Jahren „Literatur im Kreuzverhör“ wird von den Zuhörern vergessener sein als ich.

Aber.

Aber da gab es die ersten fünf Minuten dieser Sendung. Jener Moment, wo der Studiengast vorgestellt wurde und er oder sie aus dem eingesandten Brief vorlas (meiner hatte das Gedicht „Vorfrühling“ von Hugo von Hofmannsthal erraten). Und wo Peter Härtling einige direkte Worte mit mir wechselte – wie man sehen konnte, so ziemlich die einzigen in dieser Sendung. Und er fragte mich, ob ich „… nicht auch Literatur machen wolle“! Denn ihm sei aufgefallem an meinem Brief, „… dass Sie sprachbewusster schreiben als im Allgemeinen, wenn’s das Briefeschreiben angeht.“

Mithin, Peter Härtling war der erste öffentliche Mensch, der mein Potential als Schriftsteller erahnte, wahrnahm, aussprach. Dem meine Sätze, auch wenn sie sich nur um die subjektive Wirkung des Gedichts „Vorfrühling“ kümmerten, gefallen hatten. Und obwohl meine Antwort auf die Frage „Was wollen Sie tun?“ nur haspelnd lavierte und ich „Hauptsache schreiben, irgendwas, irgendwie“ murmelte, so werde ich Peter Härtling diese erste Akzeptanz nie vergessen.

Diese 5 Minuten gehören zu den schönsten in meinem Leben.

Zum literarischen Quiz passt natürlich die abschließende Preisfrage: Was zum Teufel hat denn nun die dtv-Gesamtausgabe vom Goethe mit dieser Geschichte zu tun?

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Nun, wer bei Härtling ins „Kreuzverhör“ eingeladen wurde, der durfte sich die Gesamtausgabe eines Autors wünschen. Ganz unbescheiden suchte ich mir den Goethe aus – worauf Härtling nur leise ächzend lachte. Das, meinte er, überstiege wohl das zur Verfügung stehende Budget. Aber er würde, versprach er mir, das Maximum herausholen, was, glaube ich, 150 oder 200 D-Mark waren. Genau eine Woche später entdeckte ich in einer Buchhandlung die Weimarer Ausgabe im dtv-Format, wie sie für exakt diese Summe verramscht wurde.

Und jetzt thront sie oben auf unserem Bücherregal, wird selten, aber stetig benutzt. Und jedes Mal, wenn ich einen Band greife, denke ich auch an Peter Härtling, diesen freundlichen Menschen, an sein rundes Gesicht und die großen Brillengläser, an seine warme Sprache, bedächtig und intensiv, vielleicht im Klang von Lausitz und Erzgebirge, an seine universelle Liebenswürdigkeit.

Und jedes Mal sage ich Peter Härtling meinen Dank.

(Foto: Copyright: Das Blaue Sofa / Bertelsmann, via commons.wikimedia, Link)

 

23 Gedanken zu “In Härtlingschem Gedenken

  1. Die fünf Minuten Glückseligkeit überwiegen den ganzen Rest, nicht wahr :o) ? Und du lebst, schreibst und froist dich, kein Mensch erinnert sich an das andere, aber du, du hast immer noch die fünf Minuten Glückseligkeit. Schöne Geschichte und ein schöner Nachruf. Wunderbar!!!

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  2. Oh, das ist wirklich eine schöne Anekdote; wunderbar ist es, Menschen zu treffen, die diese Aura von Güte und Bedachtsamkeit ausstrahlen; und wunderbar, wie Du von Deinen Empfindungen schreibst… – und – von Deinen karierten Hemden 🙂

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    1. Andere Zeiten eben 🙂 Freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefällt. Und ja: So selten wie wunderbar Menschen kennenzulernen, wenn auch nur kurz, bei denen man spürt: Der nimmt das Menschsein liebevoll ernst. Liebe Gr´üße!

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      1. Und gleich in einem solchen Kontext,
        muss ein Hammergefühlswechselbad gewesen sein!!

        Sozusagen bis in die Gegenwart wirkend,
        wenn auch vermutlich nun eher nur noch sehr sanft,,,

        hab einen schönen Tag,
        LG vom Lu

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      1. Gerne. :-).Das kann ich mir vorstellen. Selbst wenn man jetzt darüber schmunzeln kann – wird es einem immer noch unangenehm warm, wenn man dran denkt. 😉

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  3. Ein Nachruf, in dem ich Schreiber wie Beschriebenen klarer sehen, ein Stückchen neu und weiter kennenlernen kann. Ganz persönlich, und doch darüber hinaus weisend.
    Ein Berührungspunkt zweier Leben, Knotenpunkt des unendlichen Netzes, aus dem sich Schreibende auch jenseits des Todes nicht lösen. Können. Zum Glück. Für immer verbunden.
    Danke für dieses Geschenk deiner (und seiner) Erinnerung.

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    1. Meinen herzlichen Dank für diesen Deinen zauberhaft poetischen, mich sehr berührenden Kommentar. Und wie recht Du hast: Es sind diese kleinen, verknüpfenden Knoten im Netz des Seins, die uns Menschen ausmachen. Die, Knoten um Knoten, so unscheinbar sie auch sein mögen, unsere Persönlichkeit bilden.
      Herzliche Grüße und beste Sonnensonntagswünsche!

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