Die zwei Grundkompetenzen von SchriftstellerInnen

Eins meiner Lieblingszitate zum Thema Schreiben – meist Ernest Hemingway zugeschrieben – lautet: „Schreiben ist einfach: Man setzt sich an die Schreibmaschine und öffnet eine Ader.“ Wie alle aphoristischen Weisheiten pointiert solch ein Spruch sehr schön einen bestimmten Aspekt, ignoriert aber alle anderen. Denn natürlich ist dieser Satz völlig falsch: So einfach ist es eben nicht! Freilich ist es richtig – und darauf zielt das Zitat ab -, dass jeder Text mit Herzblut geschrieben sein sollte. Aber leider ist es eben nicht so, dass jeder gefühlvolle, empathische, gequälte Mensch automatisch gut schreiben kann. Nein, die Grundvoraussetzungen einer jeden Schriftstellerin, eines jeden Schriftstellers, liegen anderswo. Ich denke, sie lassen sich auf zwei zentrale Fähigkeiten eingrenzen.

1. Die Liebe zu den Wörtern

Ohne einen intimen Bezug zu den Wörtern geht gar nichts. Ich meine damit nicht die vielzitierte Sprachkompetenz: Vokabular, Grammatik, die Beherrschung der Wörter. Das kann man lernen, das lässt sich trainieren. Als Autor brauche ich aber mehr als das. Die Beherrschung der Sprache ist nicht der Punkt – sondern die Begeisterung für Wörter, jene Hingabe, jener Wunsch, aus Buchstaben Gedichte oder Geschichten zu schaffen. Es geht nicht darum, dass ich weiß, ob vor einem erweiterten Infinitiv ein Komma gesetzt oder wie das Wort „Sillhouette“ buchstabiert wird. Das ist natürlich hilfreich beim Schreiben, aber nicht existenziell. Wichtiger ist, dass mein Denken und Leben mit Wörtern verbunden ist. Ständig und immer. Ich glaube, dass Musiker in Klägen denken oder Maler in Farben und Formen fühlen. Wir Schreibenden dagegen sind mit Wörtern verbunden, formen bewusst oder unbewusst Sätze im Kopf, denken in Metaphern, versuchen Erlebtes, Gehörtes und Gesehens in Worten umzusetzen. Und das machen wir eben nicht nur beim Schreiben am Computer, sondern ständig. Diese Kompetenz kann man nicht lernen – sie entspringt einer Hingabe und Freude zur Sprache, ohne die kein literarisches Schreiben möglich ist. Insofern ist für mich ein anderes „Schreiben ist einfach“-Zitat sehr viel stimmiger: Jenes von Mark Twain, das lautet: „Schreiben ist leicht – man muss nur die falschen Wörter weglassen.“ Diese falschen Wörter aber zu finden, ist eine Frage der Sprachaffinität, der Liebe zum Wort.

2. Die Lust Geschichten zu erzählen (Prosa) oder mit Wörtern Bilder und Gefühle zu malen (Lyrik)

Auch diese zweite Grundvoraussetzung für jeden Schreibenden lässt sich nicht erlernen. Sie entspringt ebenso wie die Freude an der Sprache einer persönlichen Vorliebe, einer genuinen Fabulierlust. Das scheint so banal wie offensichtlich zu sein, glaubt doch jeder Autor etwas erzählen zu müssen. Aber genau das ist der Punkt: Darum geht es gar nicht. Wir alle kennen jene Menschen, die auf unsere Information „Ich bin Schriftsteller“ unmittelbar antworten: „Über mein Leben könnte ich auch ein Buch schreiben!“ In den seltensten Fällen setzen diese Leute ihre Geschichten um. Nicht, weil sie nichts zu erzählen hätten – sondern weil sie nicht in Geschichten „denken“. Weil sie keine Fabulierlust in sich tragen. Weil sie nicht in jedem erlauschten Dialog ein Drama wittern. Weil sie nicht in einem vergessenen Spielzeug am Bahnhof eine Story erahnen. Weil sie ihre Fantasie nicht auf fiktive Möglichkeiten richten. AutorInnen tun aber genau das.

Bei Lyrik sieht es – zumindest teilweise – etwas anders aus, abhängig von der jeweiligen Form. Immerhin gibt genug lyrische Gattungen, die sehr wohl Geschichten erzählen: Bei einer Ballade etwa verzahnen sich Sprache und Story noch sehr viel enger als in der Prosa. Oft vermag Poesie aber noch etwas ganz anderes: Sie bildet ein Gefühl oder einen zerbrechlichen Moment in Worten ab. Sie tritt in diesem Sinn in Wettstreit mit Malerei und Musik. Günter Eichs 1946 entstandene „Inventur“ mag als beliebiges Beispiel herhalten – ausgewählt, weil es Stillleben und Emotionsabbild verknüpft:

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,

so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.

Hier wird sehr deutlich, wie ein Lyriker denkt und formt: Eich erzählt eben keine Geschichte, sondern zeichnet ein Bild: Lakonisch beschreibt er, was ihm als Kriegsgefangener noch bleibt – er macht Inventur. Gleichzeitig verwebt er Emotionen in den Text: offensichtliche, wie in den fantastischen Zeilen: „Die Bleistiftmine/lieb ich am meisten/Tags schreibt sie mir Verse,/die nachts ich erdacht.“ Aber auch nicht so offensichtliche Gefühle wie Trauer, Einsamkeit und zaghafte Hoffnung. Die spürt der Lesende nur, ahnt sie, liest sie aus den Zwischenräumen der Zeilen. Und gleichzeitig beschreibt Eich hier das, was ich als Grundvoraussetzung für jede Autorin, für jeden Autor zu erklären versucht habe: „Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht.“

Genau das meine ich.

Und was meint Ihr? Für mich sind die Liebe zu den Wörtern und die Lust am Fabulieren die einzigen beiden wirklichen Grundkompetenzen fürs Schreiben. Alles andere lässt sich erlernen – diese beiden Voraussetzungen nicht. Wer also Schriftstellerin oder Schriftsteller werden will, der prüfe, ehe er sich bindet … 🙂

 

46 Gedanken zu “Die zwei Grundkompetenzen von SchriftstellerInnen

  1. großartig, ja, so ist es!
    und sind diese voraussetzungen gegeben, dann funktioniert aber auch das eingangszitat von hemingway sehr schön, finde ich.
    ein toller beitrag, der mich begeistert und zustimmend nicken lässt!
    liebe grüße von einer, die „sich dem wort verschrieben hat“ 😉

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    1. 1000 Dank für den Link – Pounds ABC von 1934 kannte ich noch gar nicht. Besonders interessant fand ich seine Möglichkeiten der literarischen Invention: Phanopoeia („Man benutzt ein Wort, um Bilder auf die imaginäre Netzhaut des Lesers zu projizieren.“) und Melopoeia („Man lädt das Wort durch Klang auf.“) Sehr spannend! Wünsche Dir einen schönen Mai-Start!

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  2. Ich wage mich auch mal was dazu zu sagen, auch wenn ich kein Schriftsteller bin. Mit der Theorie des Schreibens habe ich mich auch nicht befasst. Aus dem Bauch raus klingen Deine Gedanken und Ausführungen zum Schreiben aber ziemlich stimmig, finde ich. Das was ich gerne lese, glaube ich im Blick zurück, entspricht auch solchem Entstehungsursprung bei den Schöpfern dieser Werke. Also stimme ich Dir einfach zu. 🙂

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    1. Wieso bist Du kein Schriftsteller? Auf „Klapperhorn“ dichtest Du doch fleißig?? Aber egal, herzlichen Dank für Deine Zustimmung. Ich liebe solche Reflexionen übers Schreiben … Habe noch einen schönen 1. Mai!

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      1. Ah jo, sehe mich halt nicht so, ist halt mehr Depressionsverarbeitung bei mir. Das ist wohl auch nicht wichtig.
        Danke sehr, habe Du auch einen schönen freien Tag! 🙂

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  3. Fabulierlust und die Liebe zu den Wörtern sind für mich die wichtigsten Grundbedingungen, um überhaupt mit dem Schreiben anfangen zu können. Doch ich denke, dass das leider nicht ausreicht, um ein guter Schriftsteller zu werden. Wer mehr als ein Amateur sein will, braucht ein besonderes Gespür für Situationen, eine Empfindsamkeit für seine Umwelt und seherische Fähigkeiten und ein gewisses elitäres Bewusstsein für sein Handwerk. Im Prinzip muss er über den Dingen stehen und trotzdem ein Teil des Ganzen sein.

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    1. Deinen letzten Punkt finde ich sehr spannend: Abseits stehen und trotzdem Teil des Ganzen sein. Diese distanzierte Weltsicht – ich nenn’s den Beobachter-Modus – ist sicher weit verbreitet unter Schreibenden. Meinen Dank für den Hinweis! Die anderen Punkte finde ich nicht so zentral: Empathie, Gespür, Bewusstsein fürs Handwerk – all das kommt von allein, wenn die andern Punkte stimmen.
      Ganz liebe Erste-Mai-Grüße!

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      1. Ich finde es immer bemerkenswert, dass Autoren, ähnlich wie Philosophen, dann an Qualität verlieren, wenn sie anscheinend aus ihrem Elfenbeintürmchen auf die Welt herabschauen. Deswegen sollten sie sich immer bemühen, als Beobachter an der Welt teilzuhaben. Und du hast recht: die anderen Dinge erwachsen aus den Grundbedingungen. Ich wolle es einfach nur noch etwas differenzieren. Viel Grüße und noch vile Spaß noch am Tag der Arbeit!!!!

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      2. Abermals meinen Dank! Ja, das Teilnehmen, das Mit-Leiden ist tatsächlich immer ein zentraler Punkt. Und mit dem Tag der Arbeit triffst Du auf einen empfindlichen Punkt: Eigentlich müsste ich jetzt noch arbeiten 🙂 Liebe Grüße!

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  4. Ach, ich weiß nicht. Die Liebe zur Sprache und die Lust am Fabulieren halte ich auch für Grundbedingungen des Schreibens. Aber nur diese beiden Fähigkeiten machen noch keinen guten Autor aus. Wenn ich denke was für fürchterliche Produkte in Prosa und Lyrik auf dem Markt sind. Objektiv schlechte Texte, der Stil passt nicht zum Inhalt, der plot ist völlig empathielos oder auch völlig unrealistisch, jenseits jeder Erfahrung und Menschenkenntnis ….. und und.
    Wenn es Leser für solche Produkte gibt, gut, dann passt das schon. Aber nicht alle Erzeuger von Texten kann man auch Autoren nennen, und gar gute.
    Herzliche Grüße

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    1. Hm. Ich glaube eher, dass diesen von Dir beschriebenen Autoren gerade die Grundkompetenzen fehlen. Wer wirklich die Sprache liebt, kann auf Dauer keine grottigen Texte schreiben. Wer wirklich Lust am Geschichten erzählen hat, der will auch gute Geschichten erzählen. Und diese beiden Voraussetzungen sind für mich eben tatsächlich mehr, weil ich so ticke und denke. Ich lebe die Sprache, ich formuliere ständig im Kopf, ich baue Geschichten auch im Alltag. Solche Sachen meine ich. Und das MUSS den Erzeugern schlechter Texte einfach fehlen.
      Ganz liebe Grüße zurück und noch einen schönen 1.Mai-Abend 🙂

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  5. Gleichwohl war ich immer schon Deiner Meinung, nur habe ich es bisher nicht so ausdifferenziert. Liebe zu Wörtern und Lust Geschichten zu erzählen, nennst Du es. In meiner Autorengruppe gibt es durchaus einen konservativen Flügel, der das „Handwerk“, Orthographie und Grammtik an erste Stelle stellt. Sie wären aber nicht bei jedem Treffen dabei, sprudelten auch bei ihnen nicht die Ideen und empfänden beim Erzählen keine Lust. Ich habe oft untalentierte Schreiberlinge damit kritisiert, dass ja jeder schreiben könne, es wird ja gut organsiert an den Grundschulen gelehrt – nur Literatur schreiben nicht jeder. Ich frage mich, ob Du den Aspekt Talent geschickt umgangen hast. Talent was ist das eigentlich? In der Lage zu sein, Wörter zu lieben und Lust haben, Geschichten zu erzählen? Woher sollen diese beiden Gaben eigentlich her kommen? Oder ist es eine Love-Story, eine bewußte Vermählung mit Wörten und Geschichten, die einen zum Schriftsteller macht? Und am Ende ist es dann Übung, Übung und Erfahrung.

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    1. Erwischt 🙂 Das Wörtchen Talent habe ich wirklich vermieden – klingt immer so großkotzig. Andererseits mag es passen, schließlich ist die Affinität zu Sprache & Story tatsächlich eine Gabe – so wie sich ein Wunderkind halt ans Klavier setzt und losklimpert, so haben manche von uns ein Gespür für Wörter. Letztlich glaube ich – ähnlich der alten Charakterlehre -, dass jeder prinzipiell bestimmte Wahrnehmungs- und Lebenszentren hat. So wie flowermaid schreibt, gibt es optische Menschen, die stark auf visuelle Reize reagieren. Andere sind Haptiker und müssen alles erst „begreifen“. Solera schreibt, er denke und fühle 100% in Klängen, eine Sache, die mir völlig fremd ist. Und dann gibt’s eben Leute wie uns, die in Geschichten denken und alles versprachlichen wollen/müssen. Spannend. Sehr, sehr spannend. Und, genau wie Du schreibst: Am Ende ist doch alles Übung …
      Liebe Grüße und meinen herzlichen Dank für diesen Deinen Kommentar!

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  6. Liebe zu Wörtern und Lust Geschichten zu erzählen – ja. Und doch sieht es in meinem Schreibprozess oft eher gegenteilig aus:
    Aus dem ersten Entwurf wird gestrichen, gestrichen, gestrichen, er wird gebogen und umgebaut, Wörter werden rausgeschmissen, durch andere ersetzt. So dicht, so kurz wie möglich will ich sagen, was ich sagen will. Und Geschichten erzählen? Nur kurz, nur angedeutet, ein Leben in einer Zeile, wenn es gut geht. Auch ein Wimpernschlag hat (und ist) eine Geschichte.
    Da liegt wohl ein Unterschied zur Prosa.
    Was Lyrik und Prosa eint: es rödelt im Kopf, ständig, im Einschlafen, beim Aufwachen, und über Tag stets auf der Jagd, wenn eine Idee, ein Wort, ein Satz vorbeikommt, der trifft.
    Ob man das jetzt Autorin, Schriftstellerin, Dichterin, Amateuse nennt, ist mir meistens egal. Es ist ich und grüßt dich herzlich als

    Ule

    Ein nachdenkenswerter und fruchtbarer Auslöser ist das mal wieder, den du uns da geschenkt hast.

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    1. Liebe Ule, Danke für die metaphorischen Blumen! Und genau dieses „ständige Rödeln im Kopf“, das Du so schön beschreibst, meine ich mit Liebe, mit Affinität zu Wörtern, mit „Denken in Wörtern“. Und das ist wohl tatsächlich irgendwie auch Veranlagung, Typ, Charakter. Wie gesagt, die „Optiker“ denken eben mehr in Bildern, die Musiker mehr in Klängen. Und wir – wie immer wir uns bezeichnen mögen (wobei Du für mich ganz klar eine Dichterin bist 🙂 ) – denken und leben und fühlen halt besonders stark mit Wörtern. Mischformen gibt’s dabei natürlich auch: Du bist mit Deinen wunderbaren Fotos ja ein perfektes Beispiel dafür, und auch Goethe hat ja ziemlich gut gemalt und gezeichnet – aber der Grundimpuls, die fundamentale Struktur liegt halt im Wort.
      Wie stets ganz liebe Grüße!

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      1. O, verbindlichsten Dank erneut für deinen charmanten Vergleich!
        „Mischform“ zu sein ist allerdings eine echte Plage – lässt du dich auf das Eine ein, pocht die ganze Zeit das Andere: „Ich komme zu kurz, ich will auch.“

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      2. Oh ja, da hast Du sicherlich recht, und ich bin froh dass mir so eine Doppelbegabung erspart blieb 🙂 Wahrscheinlich muss man sich in so einem Fall Regelmäßigkeiten zulegen, so wie Günter Grass, der stets abwechselnd schreib und zeichnete, nach einem abgeschlossenen Roman sich grafisch austobte und dann zum Wort zurückkehrte …

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