Poe über die Mehrdeutigkeit des Schreibens

383px-Edgar_Allan_Poe_2Edgar Allan Poe – der Altmeister seelenpeinigender Horrorgeschichten und Erfinder des Detektivgenres – war für mich eine der ersten großen Leseerfahrungen überhaupt. Sein schmales Œuvre hatte ich, nachdem mich Kurzgeschichten wie „Die Maske des Roten Todes“ oder „Grube und Pendel“ fasziniert und begeistert hatten, sehr schnell durchgelesen.
Was für Texte!

Das heutige Zitat übers Schreiben stammt aus Poes nach wie vor äußerst lesenswertem Essay „Die Methode der Komposition“ aus dem Jahr 1846 – zwei Jahre bevor die bekannte Daguerretypie von Poe entstand :

“Zweierlei ist unabänderlich nötig: erstens ein gewisses Maß an Vielseitigkeit, oder eigentlich Schmiegsamkeit; und zweitens ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit – eine, wenn auch noch so unbestimmte, Unterströmung an Bedeutung.”

In diesem spannenden Aufsatz „Die Methode der Komposition“ analysiert der gerade 40 Jahre alt gewordene Poe sein eigenes Gedicht „The Raven“, zeigt Schritt für Schritt die Entwicklung der einzelnen Strophen auf – und gibt ziemlich damit an, dass er sich seine Verse rein rationell nach dem Schema Ursache und Wirkung ausdachte. Obwohl ich diese Vorgehensweise faszinierend finde, nehme ich Poe eine rein handwerkliche und kopfgelenkte Arbeit nicht ab. Nach dem Motto: Ach, ich wollte ein Gedicht machen über das Schöne, und das Schöne ist auch immer das Traurige, also über etwas Trauriges schreiben, und dann suchte ich mir das Traurigste aus – Liebeskummer – und überlegte mir flugs ein düsteres Bild, fand den Raben … und so weiter. Natürlich stimmt all das auch, aber ohne Poes großartiges Gespür für Klang, Sprache und Melancholie hätte ihn eine solche Technik nicht besonders weit gebracht.

Sei’s drum. Wer „The Raven“ nicht kennen sollte, der klicke auf diese leider etwas schrapplige, aber herrlich szenische Lesung von Vincent Price:

Was für ein wunderbarer Sound. Selbst wem (wie mir) etliche Vokabeln fehlen, der kann doch mitschwimmen in diesem Wörtermeer, wo jede Zeile wie eine Welle anzurauschen scheint.

Aber zurück zu dem Zitat aus „Die Methode der Komposition“. Diese Worte gehen mir stets dann im Kopf herum, wenn ich beim Schreiben eines Textes merke, dass ich zu sehr auf der Oberfläche des Geschehens hafte, zu stark auf die jeweilige Aktion fokussiert bin. Oft fehlt dann tatsächlich eine Subebene, eine wie Poe sagt „… noch so unbestimmte Unterströmung an Bedeutung.“ Sie zu finden, regelrecht zu entdecken, gehört zu den größten Freuden beim Schreiben.

Poes langes Gedicht war überaus erfolgreich, was schon allein die zahlreichen Illustrationen zeigen. Zwei dieser Künstler, die den „Raben“ herausragend umsetzten, waren Gustav Doré und Eduard Manet. Beide schufen umfangreiche Grafik-Zyklen zu Poes Poem. Die folgenden beiden Blätter illustrieren diese Strophe:

Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,
In there stepped a stately raven of the saintly days of yore;
Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he …

Dore_Manet_Rabe

Links Doré aus dem Jahr 1884, herrlich mittels Licht und Schatten die Nacht herausarbeitend, rechts Manet, dessen Zyklus neun Jahre früher, also 1875 entstand, aber in seiner Bildauffassung sehr viel moderner wirkt: näher an der Figur, der Rabe in anderer Perspektive (direkt auf uns zu flatternd) und im Fensterausblick eine großstädtische Landschaft.

Wer jetzt neugierig auf Poes Essay geworden ist: Ich entdeckte ihn in dem von Susanne Bach und Elmar Schenkel herausgegebenen Band Creative Writing, einer lesenswerten Anthologie mit Beiträgen etwa von Ted Hughes, Dietrich Schwanitz oder Gilbert K. Chesterton (dem Erfinder der Pater-Brown-Stories). Poes Aufsatz ist dort moderner übersetzt als die von 1862 stammende, anstrengend zu lesende Übertragung, die dafür Wikipedia hier frei zugänglich macht.

So, ich wende mich jetzt wieder meinen Texten zu und werde versuchen, das von Poe geforderte „gewisse Maß“ an Vielseitigkeit, Geschmeidigkeit und Mehrdeutigkeit zu finden. Und höre mir dabei die wohl berühmteste Vertonung seines „Rabens“ an:

Bildnachweise:
Poe: WikiCommons, Link
Gustave Doré: WikiCommons, Link
Edouard Manet: WikiCommons, Link

21 Gedanken zu “Poe über die Mehrdeutigkeit des Schreibens

  1. Sehr anregend, dein Essay über Poe! Und diese Lesung – so grade richtig antiquiert und angestaubt in Gestus und Stimmführung, himmlisch das leichte Vibrato des gepflegten Horrors.
    Poes poetische Qualitäten waren mir aus dem Blick geraten, danke, dass du mich daran erinnert hast.

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    1. Merci für die Blumen! Price macht das wirklich herrlich, oder? Eine echte Zeitreise …
      Zu Poe: Es gibt noch ein Buch von ihm, das ich nie in die Finger bekam – eine Auftragsrbeit, ein Sachbuch zum Thema „Muscheln“. Bin gespannt, ob ich das irgendwann mal finde – und darin dann vielleicht poetische Schneckenschalen-Beschreibungen 🙂
      Habe einen herrlichen Dienstag!

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      1. Ah, Danke für den Link (der zwar aus irgendeinem Grund nicht funktionierte, aber wenn man den Artikel-Namen bei Google eingibt schon …)! Wusst‘ ich’s doch, dass der Poe(t) durchkommt, schreibt doch auch der ZEIT-Autor: „Obwohl das Werk ein Schul- und Lehrbuch ist, schlägt Poes Dichterseele durch…“ Aber 2800,- (auch wenn’s damals keine Euro, sondern noch DM waren) sind mir dann doch ein bisschen zu viel, da warte ich auf einen preiswerteren Nachdruck irgendwann. Irgendwo.
        Meinen herzlichen Dank!

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  2. Tja, musste Schmunzeln beim Abschnitt über Handwerk und Konstruktion. Wenn es dann so stimmt, was Poe sagte, dann ist er einfach der deutlich bessere Handwerker als der von mir kritisierte und von dir in Schutz genommene 😉
    Es gibt bei mir im Blog auch diese Texte, die handwerklich (Heimwerker mäßig) entstanden sind und die wirklichen Bauchtexte. Diese Bauchtexte sind fertig wenn sie geschrieben sind. An den anderen, kann ich nach jedem lesen wieder basteln.
    Es wird wohl eher bei Poe so sein, dass Kunst und Handwerk letztlich nicht mehr zu trennen sind und das Handwerkliche eine zu tiefst verinnerlichte Fähigkeit ist, die ohne bewusste Wahrnehmung funktioniert. Rückblickend kann er dann auch selbst diese Professionalität in seinen Texten finden die aber bei Entstehung der Texte nicht vordergründig ist.

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  3. Oh, das ist spannend: Über die Unterscheidung zwischen Bauch- und Handwerkstexten habe ich so mir noch keine Gedanken gemacht. Für mich gibt’s letztlich nur gute und schlechte Texte, und die finde ich bei mir sowohl bei den intuitiv, aus dem Bauch raus entstandenen als auch bei den bewusst geformten. Wirklich sehr spannend. Und Du hast sicherlich recht: Irgendwann, wenn man viel schreibt, wird wahrscheinlich das Handwerkliche so stark verinnerlicht, dass man sie benutzt. Von Dean Koontz (um beim Horror zu bleiben 🙂 ) wird das auch kolportiert: Er schreibe zwar langsam und wenig, aber stetig und ohne große Überarbeitung. Er schreibt intuitiv handwerklich …
    Vielen Dank für Deinen Kommentar und liebe Grüße!

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