3. Teil, 1. Kapitel, 1. Szene

Teil 3: Landgang

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Jimmy-Boy verließ die Stadt Richtung Westen. Neunzehn Monaten lang hatte er in diesen Ruinen gelebt, sich von angerostetem Dosenfraß ernährt und von Kaninchen, die wie pelzige Ratten durch die Straßen hoppelten. Jetzt endlich hatte er die Schnauze voll: Die Betonwüste konnte ihm gestohlen bleiben. Gestern hatte er sich in einem Outdoor-Laden bequeme Schuhe besorgt – Schuhe waren wichtig. Kontakt zum Boden und so. Das Geschäft war nicht geplündert worden – Zelte und Mückenspray standen offenbar nicht hoch im Kurs, wenn die Apokalypse hereinbrach. Also musste Jim die Scheibe selbst einschlagen. Kein Problem: Betonbrocken von angefaulten Hauswänden lagen ja überall herum. Auf der Suche nach Schuhwerk fand er eine Thermojacke, ein Klappmesser und Campinggeschirr. Den passenden Rucksack entdeckte er auch. Nur bei den Stiefeln, da brauchte er tatsächlich länger. Größe 44 war nur leicht über dem Durchschnitt, aber seine Spreizfüße brauchten Platz und breite Schuhspitzen. Was Schuhe anging, war Jimmy-Boy eben der anspruchsvolle Typ.

Egal. Mit neuen, nach verstaubtem Leder riechenden Wanderschuhen samt extraweichem Fußbett an seinen Spreizfüßen erreichte er den westlichen Stadtrand. Jim war groß und dürr wie ein Stock, seine langen Arme baumelten wackelnd am Körper. So ein bisschen gorillamäßig. »Mach dir nichts draus«, hatte sein Vater ihn oft getröstet. »Wer lange Arme hat, kann nach den Sternen greifen!« Vielleicht ließ Jim sich deshalb auch seine Haare lang wachsen – wenn schon, denn schon. Seit er 17 war, packte er sie zu einem schwarz schillernden Pferdeschwanz zusammen. Und öffnete sie nur für zärtliche, weibliche Finger.

Jimmy-Boy streckte sich, wackelte probehalber mit den Zehen – ja, da war genug Platz im Leder – und kniff dann seine Augen zusammen. Blinzelte man durch halbgeschlossene Lider, sah alles fast normal aus: Häuser und Straßen, Autos an diesen Straßen, die vertikalen Striche aus Laternen und Baumstämmen. Mit halb zusammengekniffenen Augen konnte er sich vorstellen, alles sei wie früher. Als die Medusa die Welt noch nicht schachmatt gesetzt hatte.

Jim öffnete die Augen wieder ganz. Wirklich schlimm war es so eigentlich auch nicht: zertrümmerte Fenster, ja, auch eingeschlagene Türen und mittlerweile bröckelnde Mauern. Aber nur wenige ausgebrannte Häuser. Und die Autos rostig, mit platten Reifen und verkrustet von Vogelscheiße. Doch insgesamt okay. Die Welt der Medusa war weniger eine zerstörte, als eine verlassene Welt. Die Gorgone war keine Krankheit, die wie in frühen Endzeitfilmen innerhalb von Tagen die Menschheit auslöschte, kein in Augenblicksschnelle tötender Virus. Die Medusa hatte sich in die Welt der Menschen hineingeschlichen, hatte ihre Fratze nur langsam enthüllt, Stückchen für Stückchen. Über Jahrzehnte war die Zahl ihrer Opfer gewachsen, unaufhaltsam und stetig, oh ja, aber nie so stark, dass Panik zu Ausschreitungen und Amokläufen führte. Jeder dachte das, was Menschen immer denken: Mich erwischt es schon nicht.

Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch an die Gorgone. Und wer es sich leisten konnte oder zum Militär gehörte – der flüchtete auf die Meere. Denn schwimmen konnte sie anscheinend nicht, die Medusa.

Jim Kerk kicherte. Er wackelte mit den Zehen und schlenderte zur Stadt hinaus, bis er die Grenzstation West erreichte. Einige Frosties standen Spalier, als wollten sie ihn in feierlicher Stille verabschieden. Jimmy-Boy mochte die Frosties. Sie waren einfach witzig, manchmal sogar schreiend komisch. Meist erwischte die totale Erstarrung sie ja im Sitzen oder Liegen, manchmal aber kratzten sie sich ein letztes Mal am Kopf, popelten in der Nase oder hoben ein Bein zum allerletzten Schritt. Dann kippten sie natürlich um, die armen Schweine, und brachen auseinander. Frosties waren ziemlich schwach auf der Brust. Skulpturen aus feinstem Glas. Da waren die Wachsdinger stabiler, die er als Kind bei Madame Toussaut gesehen hatte.

Jimmy-Boy näherte sich ihnen ohne jegliche Vorsicht. Er kannte kein Leben ohne Frosties, kein Leben ohne die Gorgone. Als Jim geboren wurde, streckte die Krankheit schon ihre Arme aus und krallte sich die ersten Menschen. Oh nein, Angst hatte er nie gehabt. Laut und falsch pfeifend ging er auf die Grenzstation zu. Später, als die Opferzahl doch kritisch wurde, flüchteten viele Überlebende aus den Städten. Ha. Als würde die Medusa sie nicht genauso zwischen Wald und Blümchen erwischen. Die Regierung hatte schon bald Grenzstationen eingerichtet, um den Überblick zu behalten: Die schrumpfende Zahl an Menschen wurde gewissenhaft notiert. Wenn die Welt schon unterging, dann wenigstens in exakter bürokratischer Ordnung.

Jim Kerk lachte. Beim Vorrübergehen tätschelte er einem der Frosties den Kopf, der aufrecht in der Gegend herumstand, eine Hand wie zum Gruß erhoben.

»Winke, winke«, murmelte Jimmy, machte noch zwei Schritte, wirbelte dann mit einem Schrei herum und riss seinen Colt Python aus dem Holster. Sechs Schuss in der Trommel, Kaliber .357 Magnum. Ein fettes Teil, mitternachtsblau brünierter Stahl und eine Griffschale aus Hirschgeweih. Seit »The Walking Dead«, dieser Uralt-Serie längst untergegangener Fernsehwelten, die richtige Waffe für Untote, yeah, schon good old Rick Grimes hatte mit seinem Colt Phyton Zombies umgeballert.

Der erste Schuss ging vorbei, der zweite traf. Genau in die Fresse. Mit einem befriedigend satten Schmatzer zerplatzte der Kopf, zerstob in einer Wolke aus rotem Staub: eine in der Luft aufblühende Farbe, die leuchtete wie von bescheuerten Tibet-Mönchen gestreute Sand-Mandalas. Einen Augenblick nur hing diese rote Staubblüte vor dem schwachblauen Himmel, dann schwebte sie im Sonnenlicht flirrend zu Boden. Erst jetzt kippte der Körper und zerbrach unter leisem Knistern auf dem löchrigen Asphalt.

Oh ja, Jimmy-Boy mochte die Frosties.

Sie zerplatzten einfach zu schön.

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9 Gedanken zu “3. Teil, 1. Kapitel, 1. Szene

  1. Ahh….TWD….das erste mal, dass ich es in einer Geschichte lese. Jimmy-Boy klingt so schön harmlos. Es sind immer die, die so harmlos wirken. 😉 Frohes Neues Jahr.

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  2. Ja, die „harmlosen“ haben’s in sich 🙂 Ein neues Jahr, ein neuer (der dritte und letzte) Teil des Romans „Elmsfeuer“. Und auch Dir sage-schreibe-wünsche ich herzlich: Ein frohes neues Jahr!

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  3. Schön, weiter lesen zu dürfen! Ja, explizit auch von mir ein frohes, neues Jahr 2017! Ich tu mich immer etwas schwer mit jugendlichen Figuren. Auf der anderen Seite will ja wohl kaum jemand die beiden ersten Teile lesen wollen, um zu sehen, wie man so einen Roman als Autor aufbaut. Das Schielen auf eine Zielgruppe ist sicher legitim. Vielleicht habe ich ein halbe Folge von The Walking Dead gesehen, vielleicht war es auch nur eine Billigproduktion auf Tele 5, doch wenn es um Zombies geht, sind es doch die plötzlich aus allen Ecken auftauchenden blutgierigen Untoten. Wir haben doch zum Ende des zweiten Teils gelesen, dass die Frosties starre, versteinerte Menschen sind, ja noch Gefühle haben. Und dieser Jim schießt sie ab! (Er trifft ein still stehendes Ziel nicht mal beim ersten Mal!) Ich warte mal ab, wie es weiter geht. Vielleicht gibt es ja ein Treffen der Generationen … 😉

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    1. Ich war damals ein Fan der ursprünglichen Comic-Serie – zumindest bis klar wurde, dass sich das zu einer „unendlichen“ Geschichte audehnen würde (sowas hasse ich). Die TV-Serie habe ich tatsächlich nie gesehen (schon allein, weil meine Frau mit brutaleren Sachen nicht kompatibel ist :-)), muss ich aber auch nicht haben. Für die Figur des Jimmy fand ich das aber extrem passend – medialer Overflow in einer Zeit des Untergangs.
      „Treffen der Generationen“ – herrlich, meinen Dank!
      Ganz liebe Grüße!

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    1. Prosit zurück! Und meinen herzlichen Dank für den Satz, holperte in der Tat (obwohl ich nicht wirklich kapiert habe, warum eigentlich :-)). Habe ich prompt übernommen – solche Anregungen sind immer sehr hilfreich! Liebe Grüße und einen perfekten 2017-Start!

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      1. Ich könnte auch nicht sagen, warum er eigentlich holpert 🙂 Nachdem wir uns aber einig waren, dass es so ist, muss man das halt unter „nativespeaker – Sprachgefühl“ einreihen …

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