Teil 3: Karl May oder John Irving
In der kleinen Typologie der Schriftsteller zeigte ich bis jetzt die Paare Extrovertiert vs. Introvertiert und Planer & Drauflosschreiber. Heute geht es um zwei weitere Autoren-Möglichkeiten, die man bezeichnen könnte als Ausdenker und Recherchierer.

Mein Lieblingsbeispiel für ersteren ist unser aller Winnetou-Held.
Denn der 1912 gestorbene Carl Friedrich May hat natürlich weder amerikanische Büffelherden noch die Wüsten des Orients besucht, auch wenn er gerne das Gegenteil behauptete und sich in „originaler“ Westernkluft zeigte. May hat nicht einmal groß recherchiert, sondern sich seine Helden und Schurken aus, wie man so schön sagt, den Fingern gesogen.
Heutzutage ist der Karl-May-Typ (und ich sage seufzend: leider) sogut wie ausgestorben. Wir lesen Romane schon lange mit Wikipedia im Rücken, wir haben Lust, die in der Belletristik genannten Orte und Objekte zu googeln – man würde Karl May einfach nur auslachen. Was ich schade finde, denn ich wünschte mir mehr Autoren wie ihn, die ihre Fantasie über die Realität stellen.
In unserer Zeit sind es einzig Fantasy-Welten, die nicht unbedingt der Recherche bedürfen (wobei es auch da typbedingte Ausnahmen gibt: Man denke etwa an die bildungsprallen Anmerkungen in den Bartimäus-Büchern).

Den Gegenpol zu Karl May verkörpert für mich John Irving.
Der großartigen Schöpfer von Büchern wie Garp oder wie er die Welt sah ist bekannt für seine Recherchierfreude – er hat nicht nur eigens dafür angestellte Mitarbeiter, sondern ist auch selbst sehr neugierig. In einem Interview mit der Zeit berichtet er etwa hier über seine Recherche zur Prostitution in Amsterdam.
Mir steht Irving näher als May. Wenn ich über einen Ort schreibe, wie etwa die Lagunenstadt im Racheengel von Venedig muss ich ihn auch gesehen und erlebt haben. Internet und Bildbände helfen zwar, aber die Nuancen sind schwer ohne eine Vor-Ort-Recherche zu schaffen: Vor allem was Geruch und Geschmack angeht, aber auch bestimmte Klänge oder das spezielle Licht – all das ist notwendig, um die Atmosphäre eines Ortes wahrhaftig zu schildern. Deshalb schreibt Stephen King sogerne über seine Heimat Maine oder Irving eben über New Hampshire, wo er 1942 geboren wurde.
Ein zu starker Fokus auf die Recherche beinhaltet aber auch die Gefahr von Fußangeln: Beispielsweise wurden die letzten Bücher von Michael Crichton wie Beute, Welt in Angst und Next von Fakten und Wissen komplett erdrückt. Verband Crichton in seinen Klassikern wie Andromeda oder Jurassic Park noch auf grandiose Weise Fiction und Fact, so hatte ich bei seinen letzten Romanen den Eindruck, dass Crichton die Story selbst nicht mehr interessierte und nur noch lieblos runtergetippt wurde. Die Recherche wurde zum Selbstzweck.
Bei diesem Thema freu’ ich mich jedenfalls stets, wenn ich an meinem „Elmsfeuer“ arbeite und nicht am historischen Mittelalterroman, der auch noch in der Pipeline steckt. Zwar muss und kann ich auch bei meinem Buch-wie-Kings-Turm genügend Recherche betreiben (etwa den Kodex der Marine, verschiedene Waffen- oder Schiffstypen, der astronomische Unterbau meiner Apokalypse) – doch der Karl May in mir, der hat genug Platz zum Austoben.
Und, wie sieht’s bei Euch aus? Eher Karl May oder doch Irving?
Ich wünsche Euch morgen allerliebste Weihnachten,
herzlich
Ihr und Euer
Simon Segur.
Bildquellen:
Karl May: Erwin Raupp
John Irving: Mariusz Kubik
Team Karl 😎
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Willkommen im Club 🙂 Obwohl ich das bei Ihnen, lieber Herr Moser, gar nicht gedacht hätte …
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Tja, ich stecke voller Geheimnisse 😎
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Tja, das wiederum hatte ich schon geahnt 🙂
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I’m like Irving in May. 😉
Hemmungslos phantasievolles Austoben finde ich eigentlich eine feine Sache. Aber dann sollte man die fiktiven Elemente auch konsequent durchziehen. Sobald konkrete Orte oder Milieus ins Spiel kommen, halte ich Authentizität für unbedingt wichtig. Ein reiner Fantasieort beispielsweise darf aussehen wie er will. Wenn ich die Handlung jedoch an einem konkreten Ort spielen lasse, finde ich es wichtig, dass dieser Ort wirklich realitätsnah lebendig wird. Da gehört dann wesentlich mehr dazu als einige echte Straßennamen.
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Irving in May – köstlich 🙂 Mit der Authentizität hast Du wahrlich recht. Allerdings ist die Situation heutzutage durch das Internet viel schwieriger als früher. Bei meinem letzten Buch „Die Tränen der Vögel“ stritt ich mich lange mit dem Lektor über den Namen der Fähre von Norddeich nach Norderney – der wurde just 2015 geändert. Ich wollt‘ aber den alten drinnlassen. Er beharrte auf Authentizität …
Liebe Grüße und meinen Dank!
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Ich bin, fürchte ich, ein ziemlicher Karl May, der allerdings tief in sich drin weiß, dass er mehr Irving sein müsste. Das wird wahrscheinlich noch zu dem einen oder anderen netten Lektoratsgespräch führen, wenn meine Mayerismen durch irvingsche Fakten gestützt werden müssen.
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Geht mir sehr ähnlich. Ich schreibe das Manuskript meist im Mayschen Sinne und stülpe dann die Irvingschen Fakten über. Natürlich abgesehen von etwaigen essentiellen Themen im Buch – die recherchier ich freilich vorher möglichst genau. Ach, ein privater Rechercheuer – das wäre schon was …
Liebe Grüße!
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Nun ja, wer weiß. Wenn ich mich dann mit dem privaten Rechercheur herumschlagen muss, weil der mir alle Fakten um die Ohren haut, die ich vielleicht in Sinne der Fiktion gerade gar nicht hören will, dann ist das ja auch nicht das Wahre.
Wieso muss ich gerade an C3-PO denken!?
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Haha – C3PO 🙂 Mein persönlicher Rechercheuer müsste mich natürlich nicht zumüllen, sondern gezielt die Fakten einstreuen, die ich gerade brauche. Er müsste erspüren, was wann wo passt.
Träumen wird man ja wohl dürfen 🙂
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John-Boy. Obwohl Winnetou einer meiner Lieblingshelden ist, schafft es Irving, das recherchierte Wissen so einzubinden, dass es „nur“ als Verstärker wirkt.
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Sehr schöne Benennung – Wissen „nur“ als Verstärker – das gefällt mir sehr. Meinen herzlichen Dank!
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Das Eintauchen in die Fakten, in einen konkreten Ort und seine Geschichten, ist sehr verlockend und kann dazu führen, dass man sich verzettelt. Faktenwissen als Grundlage für die Entfaltung der Phantasie, das klingt für mich nach einem überzeugenden Ansatz. Ich weiß aber, dass ich gern bei der Recherche stecken bleibe und vergesse, wohin ich überhaupt wollte.
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Jaaaaaa, das ist echt ein großes Problem: das Verzetteln. Mittlerweile setzte ich mir für die Recherche deshalb eine Deadline: Bis dahin und nicht weiter. Sonst würd ich nie schreiben …
Herzlichen Dank und liebe Grüße!
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