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Methodisch machte er Inventur. Er leerte die verbliebenen Rucksäcke – nur der von Theo fehlte, den hatte Lorielle mitgenommen auf ihre lange Reise den Fluss hinab. Er zählte die Waffen: drei Stück. Drei P 12-Geschwister, die von Mike, von Theo und Simon selbst. Er zählte die Munition: knapp hundert Kugeln mit neun Millimeter Durchmesser. Er zählte den Rest: drei Schlafsäcke. Zwei Zelte. Seil und Steigeisen für die Stiefel. Fünf Zick-Zacks. Auch Lorielles Fischkopf war dabei, sie hatte ihn zurückgelassen, ihren Nahrungsspender, hatte ihn deutlich sichtbar hingelegt, als wollte sie Simon noch vom Grab aus sagen: Hier, den wirst du brauchen. Vier Messer, fünf Karabinerhaken.
Und ganze Säcke voll Schuld. Vier pralle Säcke, um genau zu sein, säuberlich beschriftet mit den Namen Mike, Theo, Joshua und Lorielle.
Schuld.
Und dann war da noch etwas, zwischen seinen suchenden Händen, seinen methodischen Gedanken, ein Satz, eingebrannt im Kopf, ein Trieb wie Hunger und Durst, der Ruf des Elmsfeuers: Folge dem Stern.
Simon Segur packte aus und packte um, schulterte schließlich seinen Rucksack, zog die Riemen enger und zögerte einen Augenblick: Die Zick-Zacks wogen schwer in der Hand. Ohne die passenden Nahrungsriegel waren sie nutzlos, ja, aber sie waren noch etwas: Erinnerungen an vier Menschen, an sein TEAM, an jene Mârins, die er nicht vergessen wollte.
Erinnerungen waren zu wichtig auf dieser Erde, die einen Schubs bekommen hatte.
Schließlich steckte er die Nahrungsspender ein und blickte sich um. Ging auf die kauernde Gestalt am Flussufer zu, auf den grün schimmernden Frostie, der Wasser schöpfen, der nur trinken wollte, leben, aber nun erstarrt war zu einer bösartig leuchtenden Skulptur. Simon trat ganz nahe heran, sank auf die Knie – und umarmte den von Medusas Blick gezeichneten Menschen. Spürte die warme Wange an seiner Wange, drückte seine Haut an lebendigen, toten Stein. Noch enger schmiegte er sich an den Frostie, legte seine Stirn an dessen Stirn. Und wartete. Lauschte. Als könne er die Gedanken hören, die vielleicht, vielleicht auch nicht, wer wusste das schon, dreimal Aye, Kap’tai, im Innern des gefrorenen Kopfes toben mochten. Simon schloss die Augen. Horchte mit angehaltenem Atem, hörte aber nur das Flüstern des Flusses, den singenden Vogel und seinen Atem, tief und ruhig. Er roch etwas Warmes in der Luft, Blütendampf und viel Wasser, nasse Erde und ein Hauch von Moos, frischgrüne Blätter, er roch, wie hieß das Wort, ja, er roch Frühling. Ein Erinnerungs-Joker, für den Simon dankbar war. Ihm fiel auch das restliche Quartett ein, Sommer und Herbst und Winter, oh ja, den Winter hatte er nie vergessen gehabt, aber Frühling?
Danke, dachte Simon. Welt, ich singe für dich.
Er rieb seine Haut an der Haut des Gezeichneten. Presste sich an das Opfer der Gorgone. Simon musste es wissen – diese Gelegenheit war so gut wie jede andere. Angst hatte er keine, die Furcht schien ein Gefühl zu sein, das weggetaut war von seiner Seele, verdampft im Nichts, nein Sir, er hatte keine Angst. Aber er musste es wissen. Wie lange sollte er so verharren? Gekrümmt in seiner absurden Umarmung? Wie lange würde der Fluch der Gorgone brauchen, um sich seiner zu bemächtigen? Wenn sie es denn konnte? War er bereits infiziert?
Er wusste es nicht. Simon kniete gekrümmt, hielt den warmen, versteinerten Körper, wartete zur Sicherheit, bis die Schatten der Bäume ein gutes Stück weiter gewandert waren, und die ganze Zeit atmete er so tief ein, wie er konnte.
Endlich ließ er los, strich fast beschämt über die Schulter des für alle Ewigkeit erstarrten Mannes und drückte sich ächzend nach oben. Drehte seinen Hals im Nacken, bis die Knorpel und Wirbel knackten. Ob er es merken würde? Ob ihm bewusst werden würde, wenn er langsamer denken, langsamer gehen, langsamer atmen würde? Wenn er zu einer Schnecke mutierte? Egal. Er hatte keine Angst, oh nein, aber diese Prüfung war zwingend. Er musste wissen, ob die Medusa ihn erwischen konnte. Oder ob er, auch da gab es ein Wort, er wusste es genau … immon … imman … war?
Diesmal spielte der Erinnerungs-Joker keinen Trumpf, aber auch das war Simon ganz gleich. Es gab andere Worte, mehr als er brauchte. Immer noch.
Ruhig, fast gelassen, legte er sich auf den Boden, der warm war vom Sonnenlicht. Streckte sich. Genoss die weiche Erde in seinem Rücken, die zwischen Wolkenlücken hindurchstechenden Sonnenstrahlen im Gesicht. Keine Handschuhe mehr, keinen Mantel. Kein Theo und keine Lorielle. Abgelegt wie Kleidungsstücke hatte er sie. Nein, das stimmte nicht.
Das durfte nicht stimmen.
Simon drehte den Kopf nach rechts, betrachtete ein paar Grashalme, die im kleinen Wind des Nachmittags zitterten, sie sind so grün, dachte er und drehte den Kopf wieder nach oben, starrte zum Himmel, zu den Fetzen aus Wolkenweiß, Himmelsblau und Sonnengrell. Bis er blinzeln musste. Und die Augen schloss. Keine Angst, dreimal Aye Kap’tai! Aber er musste wissen. Musste sicher sein, dass er gegen den Blick der Medusa gefeit war. Wie lange musste er warten? Einen Tag? Oder zwei?
»Lebendige Träume und Tage ohne Stillstand«, murmelte er den Nachtgruß der Seelords.
Und schlief ein.
Schuld. Gutes Thema in diesem Kapitel. Ist Simon schuld an all das Sterben seiner Kameraden. Scheinbar fühlt er sich so. Ok, dann das sich Anschmiegen an den Frostie. Nett. Zuerst dachte ich, es hätte etwas mit seinen Schuldgefühlen zu tun. Nein, dient einfach todesmutig zur Ermittlung seiner Immunkräfte. Tja, und nun? Kein das Blut schockgefrierender Cliff Hanger. Ich finde, Simon sollte bald einen weiteren Gefährten bekommen. Aber meckern wollte ich nicht …
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Du triffst (wie oft) den Kopfnagel: Auf die Dauer fehlen hier die Dialoge, das Zusammenagieren – die Gefährten. Die natürlich kommen werden. Bei der Überarbeitung werde ich wahrscheinlich insgesamt schon aus diesem Grund straffen und kürzen. Wie stets meinen herzlichen Dank und liebe Grüße!
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