Simon erwachte durch ein Geräusch, das jeder Seelord besser kennt als seinen eigenen Herzschlag, das den Mârins vertrauter war als ihr eigener Puls an Hals und Händen: das leise, kaum wahrnehmbare Klicken, das beim Umlegen des Sicherungshebel entstand. Unachtsamkeit, dachte Simon. Erneut. Das dritte Mal. Und immer ist es das dritte Mal, das tötet.
»Eine Bewegung und ich drück‘ ab.« Lorielle stieß die Mündung ihrer P 12 an Simons Schläfe.
»Lorri, ich …«
»Schnauze!« Der Druck des Metallrohrs an seiner Stirn wurde stärker. Die Morgendämmerung zerrte erste Flackerlichter über den Himmel, und im Halbdunkeln konnte er Lorielles Konturen gut erkennen.
Sie waren gestern nicht mehr weit gegangen, folgten dem Fluss nur ein kleines Stück weiter nach Norden, bis sie das Zelt aufschlugen, Holz sammelten und die letzten Fleischstreifen des Robbentiers im Feuer brieten. Simon hatte die erste Wache übernommen, dann Lorielle geweckt und sich ausgestreckt. Kaum hatte er die Augen geschlossen, beschwor er das Gesicht von Nathan Ross und ließ dieses Trugbild einen Befehl brüllen: »Schlafen, Segur, und zwar plötzlich!«
Simon schlief, bis das Klicken des Sicherungshebels ihn weckte.
»Ich habe dir geglaubt«, raunte Lorielle ihm jetzt zu. »Auch als Theo schon tot war, habe ich dir geglaubt. Wie ein … Rattenspieler hast du uns vorwärts gelockt, Segur, hast Mike unter das Eis gelockt, Theo in den Rachen des Hays und Joshua, deinen Freund Joshua, in eine böse kleine Lungenentzündung. Aber du? Du lebst. Du machst weiter ohne ein Zucken und Zögern.«
»Lorielle, das ist nicht …«
»Halt dein Maul!« Mit abgebrochenen, aber nach wie vor scharfen Fingernägeln ihrer freien Hand kratzte sie Simon über die Wange, dort, wo das Tau Simons Gesicht aufgerissen hatte. »Das wird eine hübsche Narbe, Simon. Vielleicht verwandelst du dich ja vor einem Spiegel zum Frostie? Dann hast du eine ganze Ewigkeit, um sie zu bewundern.«
»Hör‘ mich an, Mârin!« Simon kannte vier Kampfgriffe, Lorielle in dieser Situation zu entwaffnen: zwei waren schwierig auszuführen und die dritte unfehlbar, aber tödlich. Außerdem kannte auch Lorielle diese drei Möglichkeiten. Blieb doch nur die vierte: Reden. »Bitte, hör mich an.«
»Ich will nicht, Segur. Nicht mehr.«
Im Halbdunkel ließ er seine linke Hand nach der eigenen P 12 tasten.
»Ich schieß dir jeden Finger ab, der sich jetzt noch bewegt.« Lorielle grinste, ein Gesicht aus der irren Mischung von Freude und Wut.
Los, rede mit ihr!, befahl sich Simon. Oder war sie schon längst über den Horizont der Klarheit gegangen, trug bereits in ihren Augen den Wahnsinn? Sicher war er nicht, oh nein, Sir. Vielleicht bin ich es ja, dachte er, Lorielles Nagel an der Wange spürend und ihre Waffe an der Stirn, der verrückt ist, weg gerückt von Sinn und Verstand. Rede mit ihr, Seelord, rede!
Aber Lorielle kam ihm zuvor.
»Willst du wirklich so enden, Simon?«, zischte sie. »Zusammengekauert unter dem Blick der Medusa? Erstarrt zu einer pilzgrün leuchtenden Ding? Eine tote Statue, die deinen Geist gefangen hält, morgen und übermorgen und hundert Jahre und tausend – eine Ewigkeit? Willst du so sterben, Simon Segur, stolzer Seelord?«
Mit wilden Augen starrte sie ihn an. Presste die Mündung der P 12 noch ein bisschen stärker an seinen Schädel und wartete seine Antwort ab.
»Nein«, sagte Simon leise. »Nein, so will ich nicht sterben. Aber so will ich auch nicht leben! Ich will wissen, Lorielle, ich will herausfinden was passiert ist und der Gorgone dann in den Arsch treten, dreimal Aye, Kap’tai. Ich will …«
»Schnauze!«, kreischte sie auf. »Ich will das nicht hören, du Mörder. Ich glaube dir nicht mehr. Ich sollte dich töten, Simon, endlich töten. Nicht mehr reden, oh nein, genug geredet, geschwätziger Seelord.«
Simon widersprach nicht. Sein Atem ging langsam und leise, tief und, oh ja, Leutnant Ross, lebendig. Noch lebte er.
Und mit einem Mal klang ihre Stimme wieder ruhig und klar, die Stimme jener Lorielle, mit der er Jahre – oder Jahrzehnte – auf der MS Cohiba gelebt hatte.
»Aber ich werde es nicht tun«, sagte Lorielle. Sie zog die Mündung der P 12 tiefer, ließ sie über die Schläfe nach unten gleiten, bis sie Simons aufgeschnittene Wange erreichte. Lorielle drückte zu, immer fester, bis er zusammenzuckte und spürte wie der Schnitt aufbrach, wie Blut und Eiter tropften.
»Ich werde es nicht tun, Simon.« Mit der freien Hand griff sie Theos Rucksack, schob ihn sich auf die Schulter und wich hastig zurück. Die Waffe auf Simon gerichtet, ging sie rückwärts bis zum Eingang des Zeltes, tastete sich durch das Loch in der Plane.
»Ich gehe«, sagte sie mit ihrer neuerwachten alten Stimme und schlüpfte hinaus.
Simon blieb liegen. Lauschte ihren Schritten, lauschte dem Vogel, der auch heute wieder sein Morgenkonzert anstimmte, sich trillernd räusperte und zu singen begann. Oder war es ein anderer? Spielte das eine Rolle? Simon schloss die Augen. Müde, so müde. Er hörte das Gezwitscher, die Geräusche ihrer sich entfernenden Stiefel.
Den Schuss.
Noch fester presste er die Augen zusammen, dann schnellte er hoch und stürzte aus dem Zelt. Blickte sich um, sah nichts, rannte zum Fluss, natürlich, der Fluss, der zum Meer floss. Zu Theo.
Lorielle trieb auf dem fröhlich glucksendem Wasser, dem es egal war, was es transportierte, ob es Steine mitschleppte, entwurzelte Bäume oder die Leiche eines Mârins. Sie trieb mit dem Gesicht nach oben, ihr Haar schob sich schlängelnd um ihr Gesicht, nur ihr Haar lebte noch, dachte Simon Segur, das tanzte um das Loch in ihrer Schläfe. Lorielle trieb mit dem Fluss, und Simon rannte am Ufer neben ihr her, bis die Strömung zu schnell wurde, bis er stolperte und fiel, sich auf den Knien aufstützte und zusah, dreimal Aye, Kap’tai, nur zusehen konnte, wie sie auf der wässrigen Straße davonglitt.
»Grüß Theo von mir«, flüsterte er schließlich. »Und ich hoffe auf deinen Großmut, Mârin, unendlich wie der Ozean.«
Niemand antwortete ihm.
So, wie war das noch? Joshua ist von den Toten auferstanden, aber das wissen die beiden nicht. Lori begeht hier in diesem Kapitel Selbstmord. Aus Simons Sicht ist er nun vollkommen allein. Und alles, was Lorielle ihm vorgeworfen hat, nämlich alle anderen dieser Truppe nichts anderes als in den Tod geführt zu haben, scheint wahr zu sein. Den letzten Satz hätte ich so nicht erwartet. Für mich ist er viel mehr als bloß logisch, dass er keine Antwort von Lori bekommt, die den toten Theo grüßen soll. Hier ist Simon mutterseelenallein, wie man es manchmal sagt. Und eben nicht das Wort „allein“ zu verwenden, hat Größe!
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Sorry, dass ich mich erst jetzt für Deinen wie stets sehr willkommenen Kommentar bedanke – war zwei Wochen internetlos unterwegs. Ja, die Einsamkeit darstellen ohne sie zu benennen, klassischer Fall von Show, don’t tell. Ohne dass ich mittlerweile über solche Regelchen nachdenken muss (was klasse ist, offenbar „spüre“ ich sowas mittlerweile) 🙂
Liebe Grüße!
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