Wie weit darf Literatur gehen?

Soweit sie kann, soweit sie will. Das ist – nach wie vor – meine Antwort auf diese Frage. Dennoch hatte ich nach der Lektüre von Leon de Winters neuem Roman ein zwiespältiges Gefühl, das mich lange nicht losließ und schließlich zu diesem Beitrag führte. Wer von „Geronimo“ noch nichts gehört hat: De Winter entwirft hier eine Verschwörungstheorie um den Tod von Osama bin Laden, schreibt einen fulminanten Thriller mit berührenden Gedanken zu den Themen Krieg, Terror und Musik. Ein starkes Buch. Das mich aber mit einem merkwürdigen Geschmack im Mund zurückließ.

Um das vorweg zu sagen: Ich bin ein großer Fan von Leon de Winter, schätze seine Sprache und seine Imagination. Ich finde auch das Engagement großartig, das in „Geronimo“ zu spüren ist. Auch das Kapitel, das mir Bauchschmerzen bereitet, ist großartig geschrieben. Es zeigt Präsident Barack Obama, wie er am Schreibtisch des Oval Office im Weißen Haus sitzt und jene Rede an die Nation schreibt, die nach der Exekution Osama bin Ladens um die Welt ging. Soweit ich sehen kann, zitiert Leon de Winter diese Rede wortgetreu. Abschnitt für Abschnitt entsteht sie unter den Händen des Präsidenten. Der Leser nimmt direkt teil am Schreiben dieser Rede. Schaut dabei in den Kopf von Obama. Und sieht: ein Arschloch.

Genau diese fulminante Vermischung von Realität und Fiktion beunruhigte mich. Denn Leon de Winters Obama denkt, während er am formulieren ist, letztenendes menschenverachtende Sätze wie diese:

„Sie hatten den fucker erschossen. Aber das konnte er nicht schreiben.“

„Er las den letzten Satz noch einmal laut: „Nach einem Schusswechesel töteten sie Usama bin Laden und nahmen seinen Leichnam in Gewahrsam.“ Wunderbar. Unglaublich, dass er das sagen durfte. Nicht Georg W. Bush, noch so ein loser, und dazu noch ein dummer loser, sonder er durfte diese Rede halten. Diesen Moment erleben zu dürfen war ein Geschenk Gottes. Damit hatte der fucker nicht gerechnet.“

„Gott, wie gern würde er sagen: The fucker was shot to hell. Das wäre was, wenn er das plötzlich in den Mund nehmen würde, live, vor aller Welt. (…) Schade, dass er das nicht so sagen konnte, wie es jetzt in ihm aufkam. Er jubelte. Er jauchzte vor Freude. Toter UBL. Weg. Für immer.“

„Aber (diese Rede) wollte er selbst ausformulieren. Das war sein Vorrecht als Präsident. Sein Ding. Sein Triumph. Sein von Schüssen durchsiebter fucker, an dem jetzt die Fische knabberten. Wie gern hätte er dieses Bild benutzt. Er durfte nachher nicht zu sehr strahlen, sagte er sich. (…) Er hatte sich definitv seinen Platz in den Geschichtsbüchern verdient.“

„Um fünf vor halb zwölf in der Nacht des 1. Mai des Jahres 2011 begann er mit seiner Rede. Die Welt schaute zu. Es war eigentlich der bis dahin größte Kick.“

Großartig geschrieben, keine Frage. Das Kapitel erhält seine besondere Wucht durch die zitierte Originalrede, die mit den Gedanken des Präsidenten kontakariert wird. Sie zeigt die absolute politische Macht und kritisiert sie. Möglicherweise hat Leon de Winter sogar mit einigen der Gedanken recht, die er Obama in den Kopf legt.

Trotzdem. Ich hatte und habe ein komisches Gefühl dabei.

Darf Literatur so weit gehen? Es ist eine Sache, wenn Böhmermann den Despoten Erdogan als Ziegenficker verunglimpft oder wenn Generationen von Kabarettisten sich über Merkels Raute und ihr Miesepetergesicht lustig machen. Aber ein sehr ernster, bis in die Nähe zur Dokumentation gehender Roman?

Dieses Kapitel ließ mich ratlos zurück. So sehr es mich begeistert, dass ein Verlag wie Diogenes solche Textstellen durchwinkt und dem Autor den Rücken stärkt, so wenig weiß ich, ob Literatur hier nicht einfach nur agitieren will. Und damit zu weit geht.

Was denkt ihr?

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9 Gedanken zu “Wie weit darf Literatur gehen?

    1. Ach, das ist schön, dass Du gleich vom Inhalt auf die Form wechseln kannst – ich war mir da tatsächlich nicht so sicher. Das Sprachproblem ist in solchen Fällen tatsächlich schwer zu händeln: Ein niederländischer Autor in deutscher Übersetzung beschreibt amerikanisches Denken – insofern hat de Winter das schon sehr gut gemacht 🙂

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  1. Ich denke, de Winter hat hier einen Fehler begangen. Entweder man schreibt eine politische Kritik an einer realen Person des politiischen Lebens oder man erschafft einen fiktiven Charakter in einer fiktiven Geschichte, die gleichwohl zentrale Themen des politischen Denkens und Lebens aufgreifen und diskutieren kann. So muss de Winter sich die Kritik gefallen lassen, sehr weit, zu weit entfernt von der Realitiät des politischen Lebens und Funktionierens zu argumentieren, insbesondere auch der konkreten Figuren, die er sich für seinen Roman angeeignet hat. So scheint – nicht auf diesen Blog – aber wohl auf den Roman genau das zu passen, was hier ein anderer Blogbesucher geschrieben hat: „eine Lesewohlfeine Flanierarena“.

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    1. Vielen Dank für den Kommentar – ich sehe das sehr ähnlich. Dennoch bleibe ich ständig am überlegen. Denn wo und warum zieht man als Autor die Linie? Wie lange muss „eine reale Person“ denn beispielsweise gestorben sein, bevor ich sie literarisch verarbeiten kann? Bis die Historie ihr abschließendes Urtail gesprochen hat? Und bei noch lebenden Zeitgenossen: Klaus Manns „Mephisto“ ist ja das Paradebeispiel für eine fikitve Person, die jeder Leser (nicht zuletzt aufgrund der Namensähnlichkeit Höfgens/Gründgens) dennoch sofort erkannte. Echt ein schwieriges Feld …

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