Ich liebe Tagebücher von Autorinnen und Autoren. Kafkas Aufzeichnungen etwa gehören zu den berührendsten Texten meiner Lesekarriere, Ähnliches gilt für die umfangreichen Lebensnotizen von Virginia Woolf. Die Tagebücher von Thomas Mann dagegen, angefüllt mit seinen minutiösen Ess- und Verdauungsgewohnheiten, packten mich verständlicherweise weniger.
Aber egal. Die Faszination, mehr noch, die Magie, die wir Schreibenden empfinden, wenn wir Tagebücher von KollegInnen lesen, lässt sich leicht erklären: Man lernt beim Lesen sowohl etwas über die Zeitgeschichte als auch den Menschen und letztlich das Schreiben. Dieser dreifache Gewinn macht den besonderen Reiz solcher Notizen aus.
Eine wichtige Unterscheidung sollte man bei dieser Art Bücher wohl treffen: die zwischen rein privaten Aufzeichnungen, welche erst nach dem Tod des Autoren gedruckt werden und Tagebüchern, die bereits von Anfang an für eine Veröffentlichung vorgesehen sind. Die fangen mit Goethes Beschreibungen seiner Italienischen Reise an, gehen über die Chroniken von Max Frisch bis hin zu Helmut Kraussers großem Tagebuchprojekt unserer Tage. Solche Texte unterscheiden sich von privaten Tagebüchern durch die wesentlich stärker durchgearbeitete, nicht mehr spontane Sprache, die Weglassung intimer Details und Gedanken, die Änderung bzw. Abkürzung von Namen, um die Privatssphäre zu schützen.
Eine Auswahl meiner Lieblings-Tagebücher möchte ich hier vorstellen:
Franz Kafkas Tagebücher sind dunkel und traurig, der Mann hatte eine zutiefst zerrissene Seele. Noch beeindruckender war für mich sein Ankämpfen gegen diese Verzweiflung: „21. Juli 1913: Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst. Wenn schon alles zu Ende scheint, kommen doch noch neue Kräfte angerückt, das bedeutet eben, daß du lebst. Kommen sie nicht, dann ist hier alles zu Ende, aber endgültig.“
Gelernt habe ich aus seinen Tagebüchern, solche Notizen auch immer wieder literarisch zu gestalten und auf alltägliche Kleinigkeiten zu achten: „25. März 1912: Der den Teppich kehrende Besen im Nebenzimmer hört sich wie eine ruckweise bewegte Schleppe an.“
Virginia Woolfs umfangreiche Tagebücher öffnen eine ganze Welt, eine ganze Zeit. In der Gesamtausgabe des Fischer-Verlages umfassen sie drei dicke Bände mit mehr als 1500 Seiten. Kontinuierlich schrieb Woolf erst ab Mitte Dreißig, sodass die Aufzeichnungen auch erst 1915 beginnen. Ähnlich wie bei Kafka lernte ich auch hier, dass selbst die „größten“ Autoren von Selbstzweifeln geplagt werden: „02. August 1924. Und dann habe ich wieder, je weiter das Manuskript anwächst, die alte Angst davor. Ich werde es lesen & blaß finden. Doch wenn dieses Buch etwas beweist, dann dass ich nur auf diese Art schreiben kann & und immer dabei bleiben werde, jedoch immer weiter erkunde & mich Gottlob keinen Augenblick langweilen werde.“ Solche selbstkritischen Beobachtungen halfen mir immer wieder über eigene Ängste hinweg.
Der nur 35 Jahre alt gewordene Rolf Dieter Brinkmann, am 23. April 1975 von einem Auto überfahren, hat vor allem die lyrische Landschaft in Deutschland geprägt. Sein Tagebuch aus Rom entstand während eines Stipendiums in der Villa Massimo 1972/73. Bei ihm lernte ich, das Tagebuch als Steinbruch zu verstehen und zu nutzen. Auch Brinkmann legte „Rom, Blicke“ als Materialsammlung für künftige Projekte an. Und er inspirierte mich zum Einkleben und Collagieren.
„Sehr gut ist, daß ich nicht alles in der italienischen Umgebung verstehe (die Körperausdrücke sagen mir ohnehin genug)./Überhaupt ist das Verstehen eine sehr schnittige, scharfe Sache! Was wird da abgeschnitten?“ (S. 193)
„Ich will mich viel mehr auf das Schreiben werfen und mit der Ausschließlichkeit wie anfangs als ich es bisher verwirrt und durchaus in der Verwirrung ernst gemeint getan habe./Mich interessiert nicht mehr, ob die Literatur tot ist, mag sie sterben wie alles andere, ich arbeite darin. Auch mit meinem eigenen, kleinen Wortschatz, und wenn ich jedes Wort nachschlagen muß. Was ist sonst das Leben wert?“ (S. 185)
Wunderbar geschrieben, wie alles von den Manns, aber wie gesagt: Oft hart an der Grenze zur ermüdenden Belanglosigkeit. Ein typischer Eintrag, hier vom 09.11.1948, sieht so aus: „Unruhig geschlafen. ½2 rote Kapsel. Im Stuhl. – Dasselbe Wetter. Indictment des von Pearson bloßgestellten Parnell Thomas, der komischer Weise die Aussage verweigert nach dem Vorbild seiner Opfer. – Film-President Johnson, von Europa zurück, äußert äußerst aufgeklärte Ansichten über Kommunismus und die Überholtheit der alten Diplomatie. Man solle Arbeiter-Vertreter mit den Weltgeschäften betrauen. – An der Legende weiter. – Gegangen über das Alte Haus. Klaus Pr. zum Lunch. Kleine Rechnungsfehler im Faustus. Höchst positive Besprechung in »Los Angeles Times« vom Sonntag. – Exemplare des Wiener »Faustus«, unschön dick, mit allen Druckfehlern.“
Dennoch: Es ist eben Thomas Mann. Gelernt habe ich hier, dass man seine Tagebücher stets gut hüten sollte: Bei seiner Flucht 1933 ließ Mann seine Tagebücher in München zurück. Sie wurden von Sohn Golo später unter abenteuerlichen Umständen weggeschafft, bevor die Nazis sie in die Hände bekamen. Einen Teil seiner autobiographischen Aufzeichnungen, die Jahre 1922 bis 1933, verbrannte Mann 1945.
Dieses Tagebuch fand ich deshalb besonders spannend, weil es zum einen natürlich die Nachkriegszeit behandelt, zum anderen aber den „Anfang“ des Dichters Max Frisch zeigt.
„Wer sich nicht mit Politik befaßt, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.“
„Die Kenner, wenn sie etwa eine Zeichnung sehen, gehen von Dürer oder Rembrandt oder von Picasso aus; der Schaffende, gleichviel wo er selber wirkt, weiß um das leere Papier.“
Ein Beispiel – wie letzlich bereits „Rom, Blicke“ für die Unterkategorie „Reisetagebuch“. Dass ich selbst solche Reiseaufzeichnungen (mehr oder weniger) gewissenhaft führe, habe ich meiner alten, noch von Piatti gestalteten dtv-Ausgabe von Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“ zu verdanken.
„Der Regen ist hier absolut, großartig und erschreckend. Diesen Regen schlechtes Wetter zu nennen, ist so unangemessen, wie es unangemessen ist, den brennenden Sonnenschein schönes Wetter zu nennen. Man kann diesen Regen schlechtes Wetter nennen, aber er ist es nicht. Er ist einfach Wetter, und Wetter ist Unwetter. Nachdrücklich erinnert er daran, daß sein Element das Wasser ist, fallendes Wasser. Und Wasser ist hart.“ (S. 72)
Noch ein Reisetagebuch – sicherlich eins der berühmtesten überhaupt. Sie basiert auf Notizen der Italienreise von 1786-88, wurde von Goethe in dieser Form aber erst knapp dreißig Jahre später aufgeschrieben. Die „Italienische Reise“ nehme ich eigentlich immer mit, wenn ich auf den Stiefel fahre …
„Torbole, den 12. September, nach Tische. Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt. Nach fünfen fuhr ich von Roveredo fort, ein Seitental hinauf, das seine Wasser noch in die Etsch gießt. Wenn man hinaufkommt, liegt ein ungeheurer Felsriegel hinten vor, über den man nach dem See hinunter muß. Hier zeigten sich die schönsten Kalkfelsen zu malerischen Studien. Wenn man hinabkommt, liegt ein Örtchen am nördlichen Ende des Sees und ist ein kleiner Hafen oder vielmehr Anfahrt daselbst, es heißt Torbole. Die Feigenbäume hatten mich schon den Weg herauf häufig begleitet, und indem ich in das Felsamphitheater hinabstieg, fand ich die ersten Ölbäume voller Oliven“
Auch Walter Kempowskis „Sirius – eine Art Tagebuch“ mochte ich sehr gern. Das knapp 700 Seiten starke Buch umfasst nur die Aufzeichnungen eines Jahres (1983), ist also sehr ausführlich. Es besticht durch Kleinigkeiten, Privates und zeigte mir, dass die Sprache (zumal eine dezent ironische) auch den schnödesten Alltag verwandeln kann. Besonders spannend fand ich den Vergleich zum Roman „Hundstage“, der viele Überlegungen des Tagebuchs wieder aufgreift. Auch hier wurde also aus dem Tagebuch ein Steinbruch. Hier ein Eintrag zu Silvester: „Die Standuhr schlug zwölf, die Atomuhr im Fernsehn ebenfalls, die Raketen wurden vom Winde verweht, die Hunde verkrochen sich vor der Knallerei, und ich ging zu Bett und hörte in meinem Recorder, auf dem Rücken liegend, die Hände wie auf dem Sterbebett gefaltet, den »Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit«. Die anderen feierten noch bis vier Uhr früh, ihr Lärm drang zu mir herauf. Sie waren wohl von Herzen froh, daß sie mich los waren.“
Erwin Strittmatter gehört sicher zu den bekanntesten Autoren der Ex-DDR. Seine Notizen aus den Jahren 1974 bis zu seinem Tod 1994 fielen mir eher zufällig in die Hände, in einer Zeit, als ich selbst einen Durchhänger in Sachen Tagebuchschreiben hatte. Vielleicht, dachte ich, inspiriert mich das ja. Tatsächlich funktionierte das – ein weiterer Lektürevorteil dieses Genres: Das Lesen von Tagebüchern verführt zum Selberschreiben. Strittmatters Aufzeichnungen lesen sich teilweise eher dröge, der Mann ist einfach zu oft schlecht gelaunt und jammert häufig über die Möglichkeiten (oder Unmöglichkeiten) einer neuen Veröffentlichung. Dennoch bereitete mir das Buch sehr viel Freude, nicht zuletzt, da Strittmatter eine Zeitlang in der dritten Person schreibt, aus dem „Ich“ ein „Er“ macht – eine literarische Übung, die auch ich immer wieder einmal ausführe. Hier einige von mir angestrichenen Zitate:
„Man sollte täglich eine Weile in alten Tagebüchern lesen. Mir scheint das würde die Tastatur der Orgel, auf die ein Schreibender zu spielen hat, erweitern.“
„Meine Hoffnungen sind so zwerbrechlich wie gläserner Weihnachtsbaum-Schmuck.“
„Der See fing dieser Tage an zu reden. Er redete mit den Stimmen der Stockenten, der Haubentaucher, der Blesshühner (hierzulande Priester-Ente genannt), das Knurren der Schwanenhähne rundet das vielstimmige Seegeplauder ab wie Tuba-Töne.“
Schließen möchte ich mit dem zuletzt von mir gelesenen Tagebuch: Astrid Lindgrens Aufzeichnungen während des Zweiten Weltkrieges, die letztes Jahr auf Deutsch erschienen. 1939 beginnt die damals 32-Jährige ihr Kriegstagebuch, notiert am 1. September die Worte: „Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.“ Die im Ullstein-Verlag veröffentlichte Ausgabe bindet eine große Zahl an Fotos, Bildern und Zeitungsausschnitten ein, die Lindgren in ihr Tagebuch klebte – all das ist vorbildlich kommentiert und übersetzt. Beeindruckend an diesem Buch ist die Sicht aus dem neutralen Schweden auf einen Krieg, der die ganze Welt mit Feuer überzieht. Persönlich hält sich Lindgren streng zurück – auch da bleibt sie meist völlig neutral. Umso mehr überraschen dann wie Sternschnuppen nur ganz kurz aufleuchtende Sätze wie „Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.“ Generell liest sich das Tagebuch wie eine Chronik. Hier ein Beispiel, Notizen zum Tod Mussolinis:
„Dieser Schweinehund, der (nachdem er die Italiener gaz schön auf Trab gebracht hat, das muss man zugeben) das friedliche italienische Volk 1935 zu einem Eroberungskrieg gegen Abessinien gezwungen hat, der all diese Jahre des Unfriedens einleitete, der ebendaselbst Gaskrieg gegen wehrlose Einheimische führte, der dank seiner Intervention in Spanien den schrecklichen Bürgerkrieg verlängert hat und der übrigens dadurch, dass er den Faschismus ins Leben rief, auch alle Voraussetzungen für diesen Bürgerkrieg schuf, genau wie die Voraussetzung oder besser gesagt das Muster für den Nationalsozialismus in Deutschland, der seinerseits diesen entsetzlichsten Weltkrieg aller Zeiten verursacht, dieser kolossale Schweinehund ist nun in eine Ecke gestellt worden, in der er das Urteil der Weltgeschichte abwartet, das gewiss hart ausfallen wird. Puh! Das ist ein langer Satz geworden, aber schließlich geht es um die Weltgeschichte.“ (Die Menschheit hat den Verstand verloren, Ullstein, Berlin 2015, S. 271)
Wie geht es Euch mit Tagebüchern von SchriftstellerInnen? Kennt Ihr sie, lest Ihr sie, liebt Ihr sie? Erliegt auch Ihr dieser besonderen Magie? Und: Habt Ihr Vorschläge für mich, noch ungehobene Schätze?
Quellennachweis der Autorenporträts (alle via Wikipedia – meinen herzlichen Dank an dieser Stelle an all die unermüdlichen Wikipeden!):
Heinrich Böll, Denkmal in Berlin von Wieland Förster: Axl (Original-Link)
Astrid Lindgren, 1924: Чръный
Goethe, 1828, gemalt von Karl Joseph Stieler: Ralf Roletschek
Erwin Strittmatter, 1992: Günther Prust
Max Frisch, 1961: Jack Metzger
Virginia Woolf, 1927: Racconish
Rolf Dieter Brinkmann: Wisc
Thomas Mann, 1937, fotografiert von Carl van Vechten: DieBuche
Walter Kempowski, 1975: MoschLe
Schönes Thema! Ich habe auch schon einige Tagebücher gelesen, von Deinen erwähnten Heinrich Böll und Franz Kafka natürlich auch. Magst Du Bukowski? Von ihm gibt es einen Briefroman, der auch sehr spannend ist. Über einen sehr langen Zeitraum sind darin sämtliche Briefe an Freunde, Verleger, Geliebte u.a. gesammelt.
https://www.amazon.de/Bukowski-Schreie-Balkon-Briefe-1958/dp/3927258989
Es gibt auch ein Tagebuch von ihm (wenn Du Interesse hast, gib Laut, dann würde ich den Titel heraus suchen). Die beiden Bücher fand ich sehr spannend und interessant zu lesen. Natürlich geht es auch ums Schreiben, auch um Literatur, Erfolge und Misserfolge (literarisch, privat) und vieles mehr.
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Ah, Bukowski! Seine Briefe kenne ich tatsächlich, wusste aber nichts von einem Tagebuch. Ich nehme an, Du meinst das: https://www.amazon.de/Den-G%C3%B6ttern-kommt-gro%C3%9Fe-Kotzen/dp/3462039474/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1474961421&sr=1-1&keywords=bukowski+tagebuch ?
Klingt spannend – 1000 Dank für den Tipp 🙂
Apropos Briefe: Das wäre freilich ein anderes interessantes Thema, zumal im Unterschied den Tagebüchern gegenüber: Briefe sind ähnlich persönlich und intim, aber durch das angesprochene „Du“ von vornherein gefiltert. Im besten Fall gibt’s außerdem noch eine Antwort (z.B. beim herrlichen Briefwechsel Goethe/Schiller).
Liebe Grüße!
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Meine Lieblinge sind Das Buch der Tagebücher und Der Austausch zwischen F.Scott Fitzgerald in Zelda. (Auch Briefe)
Das von Kafka mag ich nicht so, aber die Reisetagebücher werde ich mir mal ansehen.
Liebe Grüße, Julia
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Du meinst die Anthologie von Rainer Wieland? Die ist zwar sehr schön gemacht, mir aber – weil nur kleine Auszüge – vieeeeeel zu wenig von den jeweiligen Autoren. Den Briefwechsel Fitzgeralds kenne ich noch gar nicht – meinen Dank für den Tipp!
Liebe Grüße zurück!
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Bei mir ist das umgekehrt, ich mag die vielen kleinen Ausschnitte 😉
Mit den Briefen dürftest Du schon in Kontakt gekommen sein, wenn auch nur kurz. Hennie erzählte davon …
Nochmal Grüße!
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Ah, natürlich – wie konnte ich nur vergessen 🙂
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