Sobald die fünf Mârins den direkten Weg nach Norden verließen, wütete das Elmsfeuer in ihren Träumen. Nacht für Nacht brannte die funkensprühende Glut über ihre schlafenden Körper, raspelte wütend an ihrem Fleisch, knisterte und fauchte ihnen zu: Folge dem Stern!
Drei Tage lang liefen sie an der Eisschlucht entlang nach Osten, bis auch Mike einsehen musste, dass die Spalte breiter wurde – nicht schmaler.
Sie schoben neue Riegel in ihre Zick-Zacks, genossen die warme Mahlzeit in Mund und Bauch.
»Eindeutig breiter«, konstatierte Theo. Seine Stimme war rau nach den vielen Tagen im Eis.
Simon schwieg: Seine Kameraden mussten selbst die richtige Wahl treffen – viele Möglichkeiten blieben ohnehin nicht. Die letzten Seelords beschlossen umzukehren, natürlich, und es in westlicher Richtung zu versuchen. Schweigsam, müde und gereizt drehten sie um, stampften erneut am Rand des großen Axthiebs entlang. Nur diesmal mit der Eisschlucht auf ihrer anderen Seite.
Und nachts verbrannte sie das Elmsfeuer in ihren Träumen.
Am achtzehnten Tag verjüngte sich der Spalt endlich, wuchs immer stärker zusammen und trieb die Geschwindigkeit ihres Marschierens in die Höhe. Sie liefen bis in die Nacht und über sie hinaus, erreichten endlich das Ende der Schlucht. Sie lachten, als hätten sie mehr gefunden als weitere Tage im sonnengrellen Nichts. Denn schon am nächsten sehnten sie sich zurück nach diesem schwarzen Strich in ihrem Sehen, nach irgendetwas, sei es auch ein Hindernis auf ihrem Weg, egal, nur nicht diese flache, totgeschlagene Welt unter ihren Füßen, diese platte Einsamkeit in Weiß und Weiß. Irgendetwas, und sei es auch nur ein düsterer Abgrund.
In der Nacht nach der 24. Kerbe auf Simons Pistolengriff weckte sie der Sturm. Rüttelte an ihren Zelten, prüfte die Planen, ob er sie abreißen und zwischen seinen Windzähnen zerfetzen konnte. Doch Stoffe und Stangen hielten stand, bogen sich, quietschten zwar, aber trotzten der Luft. Die Mârins wachten abwechselnd, schliefen, wachten wieder auf.
Zwei Tag lang brüllte der Sturm wie ein irrsinniger Dämon aus der Eishölle, und schon das Erleichtern ihrer Gedärme war ein Spiel mit dem Tod. Die Temperatur fiel unergründlich, Ihr Urin schien schon beim Heruntertropfen zu gefrieren, die Luft raspelte beim Atmen kristallen in ihrer Lunge und wer hinaus musste, band sich ein Seil um die Hüfte, damit die anderen ihn wieder zurück ziehen konnten. Zwei Tage, in denen sie fast ihren kompletten Vorrat an Kerzen aufbrauchten, nicht um sich zu wärmen, oh nein, dazu hätten sie einen – gab es das Wort? – einen Flammenwerfer gebraucht, sondern um in die kümmerlich brennenden Dochte zu starren und sich dank ihrer daran zu erinnern, dass es überhaupt so etwas gab wie Wärme. Und Licht.
Als sie am Morgen des dritten Tages aus ihren Zelten krochen, hatte – so schien es ihnen – die Welt abermals einen Schubs bekommen.
Denn der Sturmwind hatte das Eis nicht nur abgeraspelt und geschmirgelt, er hatte es poliert mit seinem feinsten Tuch: Vor ihnen lag eine grell leuchtende Fläche wie ausgewalztes Silber, eine bis in die letzte Pore blank gewehte Spiegelebene. Zögernd tasteten sie sich vorwärts, rutschten sogar mit den Steigeisen unter ihren Stiefeln oft genug aus – es war, als gingen sie über einen glatten, in völliger Wind- und Wellenstille daliegenden See. Ja, sie gingen über Wasser, über durchsichtiges Glas, und sie taumelten, denn ihr Blick konnte sich nirgends festhalten, tauchte nach oben in den Himmel, nach unten in das gefrorene Meer, bis zu dessen dunklen Tiefe, wo der Ozean sich schwärzte – und sahen doch nur ins Nichts.
Und noch etwas hatte sich verändert.
»Hört ihr das?«, fragte Lorielle leise.
Sie lauschten. Verneinten brummend.
»Eben!« Lorielles Lächeln war müde, ihre Lippen von Kälte und grellem Sonnenlicht aufgeplatzt.
Simon nickte schließlich: Der ewige Lärm des Eises war verstummt, das Knacken und Knirschen, das Jammern und Klagen. Endlos war die Welt geworden und still.
Torkelnd schoben sie sich vorwärts, nach Norden. Immer weiter nach Norden.
Das Elmsfeuer in ihren Träumen verstummte.
Interessant, das Kapitel. Weil ganz am Anfang etwas zu lesen ist, womit ich immer Schwierigkeiten habe. (Dies hat sich ja im letzten Kapitel bereits abgezeichnet.) Und immer wieder stolpere ich darüber – Übergänge. Der Trupp ist ja nun aufgebrochen, und während der Leser die Probleme der Protagonisten mit dem Eis nun kennt, wird er erwarten, dass es erst am Ende der Reise durch die gefrorene Weite wieder etwas zu erleben gibt. Ebeso liest sich der Text, also gehe ich davon aus, dass es der Autor genauso sieht. Meine Formfrage also: Wie gehe ich mit solchen „Hängern“ um? Sicher, sie sind wichtig, allein des Plotes wegen; doch wieviel Fleisch sollte man ihnen zugestehen, wieviele Worte und damit Raum? Ich will den Leser nicht langweilen, mich selbst auch nicht, doch will ich ebenso wenig durch diese Stelle der Geschichte hetzen.
Ist der Urlaub vorebi, also Deiner? 😉 Liebe Grüße!
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Danke für die Grüße und ja, der Urlaub ist schon lange vorbei. Sammelt sich dann nur immer viel an, sodass ich erst jetzt wieder Richtung Blog gehen kann.
Was Du genau mit „Übergänge“ meinst, ist mir noch nicht klar. Hier scheint’s doch eher um eine Tempo-Sache zu gehen. Eis, Leere, Ödnis im Auge und Herz. Langsames Tempo. Ansonsten muss man freilich mit eben der Leseerwartung spielen. Will heißen: Wenn Du glaubst, dass es erst am Ende der Eisreise wieder zu erleben gibt, irrst Du Dich 🙂
Was die Tempo-Frage angeht (wenn es denn eine ist), muss das (glaube ich) jeder nach seinem Gusto entscheiden. Ich mag ruhigere Phasen gerade auch in actonreichen Büchern. Klar bin ich (nach wie vor) am überlegen, ob ich nicht die gesamte Eisschlucht-Sequenz wegstreiche, da sie nur die Leere und Hoffnungslosigkeit zeigt, die sich anbahnende Aggressivität und die Macht des ominösen Elmsfeuers im Traum. Genauso gut könnte ich schreiben „Soundsoviele Tage marschierten sie über das Eis. Bis der Sturm kam“. Diese Entscheidung – ob streichen oder nicht – kann ich aber erst nach Abschluss der Geschichte treffen.
Liebe Grüße zurück!
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Okay, dann die Brücke bis zum Sturm. Trifft es vielleicht besser 😉 Ja, ich denke, ich meine das Tempo. Ich nenne es immer Fleisch (gehaltvolles Erzählen) und Hänger (im Gegenzug ruhigere Phasen, in denen der Leser die Gedanken mitbringen muss). So gesehen handelt es sich sicher um Geschmackssache, doch einen handwerklichen Kniff muss es doch geben, oder einen Tipp! (Ich fange schon mal an, den Werkzeugkoffer zu bestücken…) Etwas, was ich für mich selbst aufstellen kann, vielleicht eine Rechnung, an der ich mich orientiere, verstehst Du? Ich schreibe ja viel impulsiv und höre immer auf mein Gefühl, aber was Übergänge und Mittelteil angeht, bin ich mir immer unsicher. Was auch daher rührt, dass ich unterschiedliche Lesermeinungen bekomme … Und schon schließt sich der Kreis 😉
Yeah, ein Sturm. Mag ich sehr.
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Fleisch und Hänger – gefällt mir. Auch wenn „Hänger“ leicht negativ klingt. Jedenfalls schwieriges Thema. Meine Tipps in dieser Hinsicht: 1. Gerade diese ruhigeren Stellen lese ich mir (wie gesagt, erst nach Vollendung des Manus) laut vor. Wenn mir selbst langweilig wird, ist’s zu viel. 2. Diese Szenen werden IMMER und grundsätzlich zum Schluss gekürzt. 3. Sie müssen zwingend zur Story etwas beitragen. Das habe ich ja oben versucht anzudeuten. Meist wird hier – anders als in actionreichen Szenen – die Charakterwelt beleuchtet. Ich frage mich also bei diesen Szenen, was genau an essentiellen Punkten für meine Geschichte wichtig ist und nicht anders transportiert werden kann. 4. Das alles erst bei der Korrektur. Denn ich liebe es, solche ruhigen Passagen zu schreiben, schon weil ich dann mehr mit der Sprache spielen darf 🙂
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Leuchtet ein. Ich finde, das sind doch sehr gute Tips!
Was 4. angeht, das geht mir ebenso – ich kann mich in gedankenspielenden Monologen geradezu verlieren. Das sagst Du gut-mit der Sprache spielen. Ich meine, dem Autor soll das Ganze ja auch etwas Freude bereiten 🙂 Verwirrend ist dann nur, wenn der eine sagt: Zieht sich ewig hin; und der andere: Schön, dieser Ausflug in die Gefühlswelt.
Deine Punkte kann man uneingeschränkt in die Handwerkskiste packen. Ich jedenfalls tue es! Danke dafür.
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Bitte, bitte. Und bei aller Liebe und Sinnhaftigkeit von Test- bzw. Erstlesern: Recht machen kann ich es ohnehin nicht allen. Meistens ist jegliche Kritik für mich entweder 1. auf den ersten Blick total verständlich und sinnvoll, dann wird’s geändert, 2. etwas, das ich verstehen kann, aber aus welchen Gründen auch immer nicht ändern will, 3. Fragen des Geschmacks oder persönlicher Vorlieben. Da würde ich nur Änderungen in Erwägung ziehen, wenn tatsächlich 9 von 10 Lesern eine Stelle doof finden. Hält sich das 5:5 die Waage, mache ich was für mich am stimmigsten ist.
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Richtig. Ich muss aber gestehen, dass ich meine eigenen Lieblingsszenen nur sehr ungern ändere. Da bin ich einfach egoistisch.
Eine Freundin, die schon mehrere Texte von mir kennt, sagte letztens: Das ist Dein Stil, auch wenn ich das und das nicht so mag, ist es doch gut, dass Du es nicht änderst. Denn Dir hingegen gefällt es sehr.
Das freute mich sehr und daran denke ich auch oft. Ich will mir ja selbst treu bleiben beim Schreiben.
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Amen! 🙂
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Kurzes Feedback, kurz, weil ich viel Nachholbedarf habe und sofort weiterlesen will – ich muss Julia zustimmen, für mich passiert faktisch zu wenig. Gut, dass es flüssig zu lesen ist, so ist das für mich kein gravierendes Problem, und wie du sagtest ist Erzähltempo eine subjektive Geschmackssache, aber wenn es nach mir gehen würde, könnte es gerne schneller vorangehen.
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Freut mich ungemein – sowohl, dass Du weiterlesen kannst und willst als auch Dein Feedback: Gut zu wissen, dass es auch Dir zu langsam fortschreitet. Ist somit auf meiner Kürzungs/Überarbeitungsliste gelandet. Meinen herzlichen Dank!
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