2. Teil, 2. Kapitel, 1. Szene

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Sie knoteten die Seile zusammen – Knoten schlagen, das konnte ein Seelord gut, dreimal Aye, Kap’tai. Bald ringelte sich das Tau als immer fetter werdende Schlange vor der Eiskante. Simon hakte einen Karabiner in seinen Gürtel, schlug den letzten Knoten und nickte dem Bär und Joshua zu, die das Seil sicherten. Als Puffer gegen die scharfe Abbruchkante diente einer der geleerten Rucksäcke, gehalten von Lorielle und Theo.

Simon legte sich auf den Bauch, mit den Füßen zur Spalte, und schob sich rückwärts hinab. Ließ seine Hüfte abknicken, als sie die Kante erreichte, rutschte weiter, gehalten vom Seil, bis er in der Luft schwebte. Langsam sank er in das gewaltige Nichts hinab. Simon atmete laut. Sah seinen Fliegenkörper gebrochen gespiegelt in Wasserkristallen, sank hinab in eine Kirche aus Eis.
Tiefer.
Kälter.
Und das Weiß wurde dunkler, färbte sich ins Blaue hinein, die Farbe des Himmels. Immer weiter hinab schwebte er, ein Wurm an der Angel; Simon stellte sich vor, wie ein Riesenfisch von unten herauf sprang und nach ihm schnappte. Stille. Nur sein Keuchen. Langsam wurde das Licht schwächer – aber die steilen Eiswände auf jeder Seite kamen einfach nicht näher: Die Schlucht verjüngte sich nicht.

Die Bewegung stoppte.

Mit den Armen rudernd, in der Luft sich im Kreis drehend, wartete Simon. »Was ist?«, brüllte er schließlich nach oben, zu der kleinen Linie Sonnenlicht, die hoch über ihm leuchtete.

Als wenn der Schall lange bräuchte, bis er zu ihm hinab fiel, dauerte die Stille an.
Endlich Mikes Antwort: »Nichts ist. Kein Seil mehr.«

Simon hing am Haken, langsam kreiselnd in der Luft. Er fummelte den kleinen Eisbrocken aus der Brusttasche, den er mitgenommen hatte von oben. Denn natürlich hatte er gewusst, dass es so kommen würde. Hatte es gewusst, oh ja, aber nicht glauben wollen.
Das Stück Eis war noch hart. Simon ließ es fallen, drehte sich weiter, schaute und lauschte, bis es in der Dunkelheit unter ihm verschwand.
Lautlos.
Er stöhnte – ein leiser Klang zwischen Trauer und Wut, ein zorniges Winseln, das von den Eiswänden reflektiert wurde wie Licht, das diese blaue, unendliche Kirche durchdrang wie ein schallendes Gebet.

»Zieht mich rauf!«, brüllte Segur.

***

Oben lagen sie keuchend nebeneinander: Mike, Joshua und Simon.

»Mann«, brummte Mike, »du bist nicht nur so stur, sondern auch so schwer wie ein Pottwal.«

Theo lachte leise, aber in Simon schlug die Enttäuschung kochende Blasen. »Dir scheint unsere Reise ja zu bekommen, fetter Bär! Das war der erste Witz, der in all den Jahren wirklich nicht absolut mies war.«

«Segur, leg dich nicht mit mir an.«

»Und wenn doch?«

»Dann polier‘ ich deine arrogante Fresse!«

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