6. Kapitel, 2. Szene

Der erste Schritt war der einfachste: der Abstieg.

Stand man auf dem Oberdeck der MS Cohiba, glaubte das Auge im einsamen Weiß der Eisfelder zu vertrocknen. Erst, wenn man nach unten schaute, fiel der Blick auf ein Gewimmel aus Stahl und Kunststoff, aus Stangen, Streben und Ketten. Wie ein versteinertes Ei lag die Cohiba im Nest der ehemals schwimmenden Stadt der Seelords. Das pressende Treibeis hatte das Schlachtschiff hinaufgedrückt, fast 50 Meter hoch, weit über die Trümmer der restlichen Schiffswracks und Boote. Fünfzig Meter über dem gefrorenen Meeresspiegel – von dort starteten sie ihren ersten Schritt.

Eine provisorische Gangway führte backbords auf ein kleineres Wrack hinunter, das, durch Metallverstrebungen und Aufbauten mit der Cohiba verbunden, kaum mehr als eigenständiges Boot erkennbar war. Die fünf Mârins schnallten ihre Steigeisen an die Stiefel, zogen die Kapuzen dichter und die Handschuhe enger. Theo und Lorielle küssten sich ein letztes Mal, dann setzten auch sie die Brillen auf und schmierten Lippenschutz auf die Münder.

»Los.« Simon lächelte.

Sie rutschten die Gangway herab, erreichten das Deck des tiefer liegenden Schiffes, wo sie eine neue Treppenkonstruktion wussten, die hinab führte Richtung Eis. Verbogene Stufen, eisverkrustete Geländer, zerborstene Planken: Es schien ihnen, als verließen sie nicht ihr Zuhause, die MS Cohiba, sondern als stiegen sie vom Gipfel eines mächtigen Berges hinunter, einer eisigen Spitze. Und der Weg hinab ins Tal war lang.

Als sie das mittlere Höhehnniveau der Schiffstadt erreicht hatten, stand die Sonne schon direkt über ihnen, brannte grell und verschenkte Schweißtropfen. Die trockneten augenblicklich in der Kälte, bildeten sich neu und brannten auf der Haut. Juckten. Aber kratzen konnte man sich kaum mit den Handschuhen, nur ein bisschen reiben und klopfen, also gingen sie weiter, konzentriert und stumm. Alles war gesagt.

Wind winselte unter ihnen und trieb eine einzige große, weiße Wolke übers Eis.

Eine neue Treppe aus schneeverkrustetem Metall, eine neue Ebene, ein neues Schiff, ein neues Deck. Und wieder Treppen.

Vorsichtig stiegen sie hinab.
»Ein stilles Labyrinth«, sagte Joshua. Der einzige Satz in all den Stunden. Die drei Worte schienen in der Luft zu gefrieren, hingen noch über ihnen, als sie schon weiter nach unten geklettert waren. Die Sonne brannte, und ihr Schweiß juckte.

Endlich erreichten sie die letzte Plattform: Kaum fünf Meter unter ihnen streckte das vereiste Meer all seine frostigen Glieder. Die Einsamkeit um die fünf herum, sie wurde dicker und schwerer. Drückte auf ihre Schulter.

Von hier, überlegte Simon Segur, konnten sie springen – fünf Meter Höhenunterschied federten Mârins locker mit den Kniegelenken ab. Aber wozu ein Risiko eingehen? Schließlich hatten sie es mit dem Training nicht genau genommen in letzter Zeit – wie lange diese Zeit auch gewesen sein mochte. Zwar hatten sie sich nicht nur von Trockenfutter und Wasser ernährt, sondern auch von Liegestützen, Situps und Probekämpfen. Trotzdem.

Fragend musterte Simon seine Gefährten. Die Sonnenbrillen verdeckten ihre Augen, aber sie erkannten sich dennoch. Nickten ihm zu.
Simon schaute fünf Meter hinab, blickte auf das Eis. Dann nahm er einen Karabiner vom Gürtel, klinkte ihn an eine Stange, knotete das Seile fest und ließ sich hinabgleiten. Rasch, effizient, mit einem Minimum an Energie und einem Maximum an Aufmerksamkeit. Die vier anderen folgten, schnell und lautlos.

Als sie auf dem stöhnenden Eis standen, klirrend und knisternd, nickten sie sich zu. Erneut. Der erste Schritt war gemacht.

Ohne viele Worte marschierten sie los. Richtung Norden, sagte Simon ihnen, Richtung Elmsfeuer, dachte er – dem Stern hinterher. Als sie eine erste, kurze Pause machten, richteten sich fünf Augenpaare wie synchrone Tänzer zurück zur schwimmenden Stadt, zu dem was die MS Cohiba war: Bereits weit hinter ihnen ragte sie auf, schwarz mit metallischen Flecken, reflektierenden Flächen, silbrig, ein Moloch aus Metall und Plastik, ein Ungetüm aus Stahl. Geboren, um die Menschen zu retten und über die Meere zu pflügen, jetzt gestrandet an einem Ufer des Nichts.

Der Wind pfiff seine gelangweilte Melodie, das Eis knackte den Takt dazu.
Die Leere war groß.
Die fünf Mârins sagten nichts.
Begannen ihren Weg durch das Eis.

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