Was machen Schrifsteller, wenn sie nicht schreiben? Sie lesen. Jedenfalls ich. Deshalb sollen hier in der Rubrik „Projekttagebuch“ immer einmal wieder Lektüre-Vorschläge gemacht werden. Keine Rezensionen, die gibt es in der Blog-Welt zur Genüge, sondern persönliche Beobachtungen, kleine Reflexionen, Hinweise auch auf ältere Bücher.
Zur Zeit lese ich ein zweites Mal sämtliche Kurt-Wallander-Romane von Henning Mankell. Als ich seinen ersten Krimi „Mörder ohne Gesicht“ zur Hand nahm, war mir nur vage in Erinnerung, dass das eigentliche Thema dieses Buches lautet: Ausländerfeindlichkeit und Asylpolitik. Über mein Erstaunen, in einem 25 Jahre alten, in Schweden spielenden Roman unsere aktuelle, bundesdeutsche Gegenwart zu lesen, möchte ich hier kurz berichten.
Spätestens seit der widerwärtigen, wie der Kabarettist Sebastian Puffpaff so schön formulierte: „Bindestrich-Wahlen“ (auf die zusammengesetzten Bundesländernamen wie Baden-Württemberg bezogen) sollte jedem klar sein, was für eine Rechtsradikalisierung sich bei uns gerade zuspitzt. Was mir dagegen wohl schon irgendwie klar, aber dann doch nicht wirklich bewusst war, ist die lange zeitliche Dimension, in der die Flüchtlingsproblematik sich erstreckt. Die Medien taten ja letzes Jahr auch alles, um uns die „plötzlich“ (ha!) steigende Zahl an Asylanten als eine „unvorhersehbare Überraschung“ zu verkaufen. Was natürlich Blödsinn ist. Was mich aber wirklich beeindruckte, war dieser Krimi von Mankell, der 1991 in Schweden und 1993 in Deutschland erschien. Vor 25 Jahren legte Mankell den Finger auf die Wunde; vor 25 Jahren lasen wir alle die Wallander-Krimis und dachten wohl so etwas wie: Na ja, ist halt in Schweden.
Weit weg.
Die Geschichte von „Mörder ohne Gesicht“ beginnt mit einem Doppelmord an einem alten Ehepaar und dem letzten gehauchten Wort eines der Opfer: „Ausländer“. Daraufhin bilden sich sogenante Bürgerwehren, fachen die Medien (damals noch beschränkt auf Zeitung und Fernsehen) die Ängste an:
Mehrere Male waren nachts Kreuze auf dem Vorplatz verbrannt worden, Fenster mit Steinen eingeschlagen, die Fassaden mit Parolen beschmiert. Das Auffanglager in dem alten Schloß Hageholm wurde trotz massiver Proteste aus den umliegenden Gemeinden eingerichtet. Und die Proteste hatten nie aufgehört.
Die Ausländerfeindlichkeit brodelte weiter.
Die Gewaltspirale dreht sich: Erst Beschimpfungen, dann Brandanschläge. Und Chaos auch in der Verwaltung:
Zu seinem großen Erstaunen stellte sich heraus, daß die Übersicht der Einwanderungsbehörde über die Flüchtlinge, die sich in Ystad aufhielten, unvollständig und hoffnungslos unübersichtlich war.
Schließlich wird ein Aslybewerber erschossen. In einem Telefongespräch zwischen der Chefin der Einwanderungsbehörde und dem Kommissar Kurt Wallander wird die Hilflosigkeit und Verlogenheit deutlich – die Behördendame äußert ihre Sorge, und Wallander antwortet:
„Es hat den Anschein, als würden von seiten der Polizei keine hinlänglichen Ressourcen bereitgestellt, um die Aslybewerber zu schützen.“
„Oder aber es kommen zu viele. Ohne daß Sie wissen, wo sie sich aufhalten.“
„Wie meinen Sie das?“
Die freundliche Stimme wurde plötzlich kühl.
Kurt Wallander fühlte Wut in sich aufsteigen.
„Oder aber es kommen zu viele“. Henning Mankells besonders Verdienst, so finde ich, lag genau darin: Einen solchen Satz zu schreiben. Denn er malt kein schwarz-weißes Bild, benennt nicht nur die rechtsradikalen Idioten als solche, sondern kritisiert die Politik. Und beschreibt – nochmals lasst es mich wiederholen – vor 25 Jahren unsere heutigen Ängste. Wieder nutzt Mankell einen Dialog, um Emotionen zu beschreiben: Wallander spricht mit der Staatsanwältin Brodin und erklärt:
„Ich habe gesehen, wie Jugendliche, die eine Straftat begangen haben, mehr oder minder dazu ermuntert worden sind, einfach so weiterzumachen. Niemand greift ein. (…)“
„Jetzt hörst du dich an wie mein Vater“, sagte sie. „Er ist Richter im Ruhestand. Ein richtiger alter, reaktionärer Beamter.“
„Vielleicht ja. Vielleicht bin ich konservativ. Aber ich stehe zu dem, was ich sage. Ich verstehe wirklich, daß einige Menschen die Dinge manchmal selber in die Hand nehmen wollen.“
„Vielleicht hast du sogar Verständnis dafür, daß ein paar verwirrte Gehirne einen unschuldigen Asylbewerber umbringen?“
„Ja und nein. Die Versunsicherung in diesem Land ist groß. Die Menschen bekommen Angst.“
Ja und Nein. Ich bewundere Mankell dafür, dass er seinen Protagonisten diesen Zwiespalt ausdrücken lässt, der heute so in einem Krimi wahrscheinlich kaum mehr politisch korrekt wäre. Und Mankell zeigt noch einmal auf das, was auch unsere Politiker so tragisch versäumt haben und immer noch versäumen: Die Angst von uns ernst zu nehmen und aufzufangen.
Ich habe „Mörder ohne Gesicht“ mit Schaudern gelesen.
Ich war beeindruckt, wie Literatur in die Zukunft sehen kann.
Wie aktuell sie sein kann, auch wenn sie Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Auch wenn es sich „nur“ um einen Krimi handelt.
Henning Mankell starb letztes Jahr am 5. Oktober. Ich wünschte, er hätte noch mehr geschrieben.
