„Warum?“, fragte Mike. Die anderen hatten zu ihm so lange wegen seiner Behäbigkeit und seiner Tatzenhände „Bär“ gesagt, bis er sich schließlich selbst so nannte, bis er sich Bart und Haar zum Fell wachsen ließ und brummend durch die Korridore der MS Cohiba tapste. „Warum“, fragte der Bär, „können die meisten Mǎrins nicht schwimmen?“ Mike gab sich, dröhnend lachend, selbst die Antwort auf den uralten Witz: „Damit sie ihre Schiffe länger verteidigen bevor sie untergehen.“ Der Bär lachte.
Die anderen hörten gar nicht erst hin. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wiederholte Mike seine Scherzfrage; sie war für seine Kameraden nicht mehr als ein Räuspern, ein beiläufiges Husten. So wie draußen die Welt erstarrt und gefroren war, so schien auch jeglicher Humor, jeder Witz, jedes Lachen zu erfrieren. Ein Glied nach dem anderen ihrer Menschlichkeit starb ab, krümmte sich und zersplitterte. Die Mǎrins auf der MS Cohiba, immer fröstelnd, ständig hungrig, sie lachten nicht mehr.
Abgesehen von Mike, dem Bären. Nur dass auch sein Lachen keinen Humor mehr verriet, sondern auf die anderen wirkte wie Lippengymnastik.
Lorielle schnaubte und starrte aus dem einen Bullauge, das sie offen und eisfrei hielten. Mike brummte. Joshua rührte mit der rechten Hand im Topf, während seine Linke löffelweise Salz hinein kippte.
„Was gibt’s denn?“, fragte Theo vom festgeschraubten Tisch aus, obwohl er die Antwort natürlich kannte. Seit vielen Monaten öffneten sie identische Dosen.
„Bärenfutter“, antwortete Joshua großzügig. „Heute mit Pfefferminz.“
Lorielle schnaubte erneut.
Theo starrte auf die Tischplatte.
Joshua rührte.
Und der Bär starrte seine drei Kameraden an, immer noch wartend, voller Unverständnis, warum niemand über seinen Spruch lachte, einen alten, na gut, uralten sogar, eine Mumie von einem Witz, aber bitte, war er nicht Mike, der Bär? Schließlich erbarmte sich Theo, beugte sich zu ihm: „Morgen, Mǎrin, bin ich der Smutje. Dann gibt‘s Bärenfutter mit Lavendelgeschmack, okay?“
Mike grinste wie erleichtert. Lorielles Wangen zuckten, als hätte Theo ihr mit diesem Satz eine Ohrfeige gegeben. Und Joshua Gillroy, er rührte immer noch. Mechanisch und ruhig, in exakt gleichgroßen Kreisen. Konzentrier‘ dich auf eine einzige Bewegung, hatte Leutnant Ross ihnen immer eingebläut. Mach‘ nur eines, hatte Ross gepredigt, aber das richtig, egal ob du kochst, schießt oder scheißt. Leutnant Ross, dachte Joshua, der verdammte Menschenschinder. Lehrer ganzer Generationen von Seelords. Großes Arschloch vor dem Herrn. Leutnant Nathan Ross, dessen Lieblingsspruch gelautet hatte: „Ihr werdet Vater und Mutter vergessen, aber nicht mich.“
Joshua rührte, bis sich der letzte Klumpen Trockennahrung im Wasser aufgelöst hatte, lauwarmes Wasser, noch vorhin als Eis vom Deck gekratzt, aber mit ihrem kümmerlichen Kerzenfeuer kaum zum Schmelzen und noch weniger zum Kochen zu bringen. Zehn Kerzen brannten unter dem Topf, und Joshua rührte weiter, versuchte Mikes brummendes Gelächter wegzurühren, Theos Geschwätz und Lorielles verächtliches Schnauben. Joshua rührte in dem verbeulten Kessel und fragte sich, ob er jemals wieder etwas anderes essen würde als diese nahrhafte, aber nach modrigem Wasser schmeckende Pampe oder die Riegel in ihren Zick-Zacks. Die im Vergleich zum Dosenfraß immerhin wie Delikatessen auf der Zunge zergingen. Ewig schade, dass sich in den Laderäumen der MS Cohiba hundert Mal mehr Trockenfutter als Zick-Zack-Riegel stapelten. Fucking scheiß Bärenfutter aus der Dose. Wann hatte Joshua das letzte Mal etwas Frisches geschluckt? Einen Fisch beispielsweise, sie mussten doch Fisch gehabt haben in der Kombüse? Er erinnerte sich, wie Simon und er einmal, früher, in einer vergangenen Zeit, etwas Giftiges geangelt hatten, so ein grässliches Tiefseemaul aus Schleim und Schuppen. Das hatten sie dem Smutje untergejubelt und die halbe Truppe vergiftet. Oder? Doch, doch, Gillroy und Segur, diese zwei jungen Seelords hatten sogar Leutnant Ross an den Rand getrieben, ja! War der nicht einmal sogar über die Backbord-Reling gekippt, als …
Joshua Gillroy rührte einen perfekten Kreis nach dem anderen. Ihrer aller Erinnerungen glichen immer stärker jenem giftigen Seeteufel, den sie damals vom Grund des Meeres geholt hatten: Sie stiegen selten aus der Tiefsee der Gedanken, glitschige Fische, die einem aus den Händen rutschten, wenn man sie packen wollte.
„Joshua!“, rief Theo hinter ihm. Der grauhaarige Theo, angeblich ein Vizeadmiral. Aber Theo erzählte nie von früher. Keiner von ihnen erzählte gerne, weil keiner von ihnen sicher war um das Gestern: glitschigkalte Erinnerungen.
„Lass gut sein“, meinte Theo. „Ich denke, in Töpfen rühren gehört nicht zu den olympischen Disziplinen.“
Gillroy ließ seine Hand langsamer werden, ließ sie ausschwingen und anhalten. Seine bleiche Hand am Holzlöffel. Die plötzliche Stille in der Kombüse wie ein Gespenst, das den vier Mǎrins die Hälse zudrückte. Ich ersticke euch alle, heulte das Gespenst.
„Olymp-was?“, fragte der Bär. Leise.
„Na, ihr wisst schon.“ Theo brummte unsicher. „Olympische Wettkämpfe … Nein?“
„Nein.“ Endlich löste Joshua seine Finger vom Löffel. Er drehte sich um: „Weißt du’s denn noch? Dann sag‘ schon!“
Joshua, Mike und Lorielle starrten Theo an. Beobachteten, was sie schon so oft gesehen hatten auf den Gesichtern der anderen oder auf ihrem eigenen im Spiegel. Einen Joker nannten sie es, wenn plötzlich ein Wort aus der Vergangenheit in ihrem Mund, in ihrem Kopf auftauchte. Ein Erinnerungs-Joker, der sie angrinste. Nur ein Fetzen, wie einen Knebel zwischen den Lippen, den man ausspuckte. Dann lag er da, der Fetzen, das Wort. Das Ding, das man nicht mehr erkannte. Man wollte sich daran erinnern, unbedingt, mit ganzer Kraft, aber nie, nie, niemals hatte man Glück. Sie hassten den Erinnerungs-Joker.
Auch Theo kämpfte mit sich, presste Augenbrauen und Zähne zusammen. Nutzte natürlich nichts. Das tat es nie.
„Scheiße, die … die Olympischen … Spiele“, brummte Theo. Und verstummte.
Mike, der Bär, zuckte die Schulter. „Wann kommt denn jetzt die Pampe, Smutje? Beeil dich lieber, sonst, äh, bricht der, äh, hungrige Bär aus seinem Käfig aus.“
Die Luft schien zu flackern im großen Raum, unten in der Kombüse der MS Cohiba, einem Schiff, das für 500 Mann Besatzung gebaut war, später über tausend aufnahm, mit quergelegten Auslegern, später, ja, als aus dem Schiff etwas wie ein Floß wurde, eine schwimmende Stadt, Zuflucht und Heimat für die besten und für die letzten. Für die Mǎrins. Die Seelords.
Die Luft flackerte, und Joshua Gillroy lachte auf. Ohne Humor. Ohne Witz.
Lippengymnastik.
„Von mir aus“, grinste Joshua, „kannst du das Menü alleine fressen, Bär.“ Er packte den Topf und wuchtete ihn auf den Tisch. Schob ihn Mike herausfordernd unter die Nase.
Sie setzten sich, noch nicht erleichtert, aber fast: Die Stille – das Gespenst mit den Würgehänden – gab sich geschlagen bis zum nächsten Mal. Der Erinnerungs-Joker wurde wieder ins Spiel der Worte zurück gesteckt und andere Karten gezogen. Vertraute. Erinnerbare. Worte wie fressen und Bär und Topf. Still kippten sich die Mǎrins ihre Teller voll.
Die zehn Kerzen flackerten.
Simon kam herein, verriegelte die Schleuse hinter sich, riss Handschuhe von den Fingern und die Kapuze vom Kopf. Er setzte sich zu ihnen, starrte in den Topf mit aufgelöster Trockennahrung und schaufelte, schweigsam wie die anderen, einen Löffel nach dem anderen in seinen Mund.
Konzentriere dich auf eine einzige Bewegung.
Es gab keine Energie mehr, keine Wärme, keine Heizung auf der MS Cohiba. Nur der Vorrat an dieser Katzenpisse schien unerschöpflich.
„Wo steckt Francis“, fragte Theo rülpsend und schob seinen Teller zurück.
„Tot“, sagte Simon.
Nur zu vertraute Wörter aus dem Kartenstapel. Fressen. Bär. Topf. Und Tod.
Simon hielt inne, der Löffel schwebte auf halber Höhe vor seinem Mund und wie so oft durchsuchte er seinen Stapel. Angelte nach Worten. Fand nichts. Was gab es auch schon zu sagen?
Simon Segur vollendete die Bewegung und führte den Löffel an die Lippen. Schluckte. Nur eins, dachte er, was ich vielleicht tun kann: Versuchen nicht zu schlürfen. Ehre den Toten. Ha.
Draußen in der Nacht sang das Eis nur noch leise.
„Mann“, lachte der Bär, dröhnend und brummig. „Du solltest ihn zum Essen holen und nicht umbringen!“
Der Witz des Tages.
Die anderen drei blickten unsicher, aber sie kannten Segur: Keiner machte seltener Späße als er.
„Sag schon, verdammt!“, forderte Lorielle endlich. „Wo ist Francis? Was ist passiert?“
„Mykros.“ Simon antwortete zwischen zwei Löffeln. Nahrung war wichtig, auch wenn sie aussah und schmeckte wie aufgewärmter Durchfall.
Wieder lachte der Bär laut und falsch. „An Mykros stirbt man doch nicht, Mann! Du machst die Augen zu und wartest, bis die Viecher weg sind!“
Simon bewegte den Löffel. Mechanisch vom Teller zum Mund und wieder zum Teller. Mach‘ nur eins, aber das richtig. Joshua Gillroy und Simon hatten denselben Lehrer gehabt: Leutnant Ihr-werdet-Vater-und-Mutter vergessen-aber-nicht-mich-Nathan-Ross.
Erst als der Teller leer war, blickte Segur hoch. „Er hatte Pech. Ist eingeschlafen.“
„Draußen?“ Lorielle riss die Augen auf. Schnaubte.
Simon nickte. „Und erwachte zu früh. Muss die Augen in dem Moment aufgemacht haben, als die Mykros …“ Er verstummte. Jeder von ihnen hatte die tanzenden Schwärme gesehen, wie sie sich in die Augen ihrer Opfer bohrten und als blutiges Exkrement aus dem Bauch wieder herausstürzten.
„Er ist … er ist tot?“ Wieder Mike. Typisch. Dumme Witze und noch dümmere Fragen.
Keiner antwortete dem Bären.
„Dann gibt es nur noch …“ Theo blickte ins Leere, schaute die anderen nicht an. Seine Glatze leuchtete wie ein gelb verschimmelter Mond im Licht der zehn Kerzen. „Nur noch uns fünf. Die letzten Mǎrins. Die letzte Handvoll Seelords.“
Stille.
Das Gespenst rieb sich grinsend und erwartungsvoll die Hände.
„Ihr widert mich an“, sagte Simon und stand auf.
Mike, Lorielle, Joshua, Theo. Das sind vier neue Charaktere in einem Abschnitt. Nachdem Simon und Francis im vorigen eingeführt (bzw wieder „ausgeführt“) wurden. Ich konnte mir am Ende nur ein Bild von Mike machen, da er noch am ehesten etwas, wie eine Beschreibung erhalten hat und dessen Charaktereigenschaften noch am meisten durchkamen.
Das ist witzigerweise das selbe Problem, das ich bei meinem eigenen Blogroman auch habe: im ersten Abschnitt lernt man neben dem Prota gleich mal vier weitere Personen kennen. Und während für mich als Autor natürlich vollkommen klar ist, wie diese aussehen und ticken, habe ich mich während dem Schreiben da nicht genug in meine Leser versetzt, die etwas überfordert waren, mit den vielen Namen, die zunächst nicht viel mehr als eben das waren: Namen.
Ich meine, klar, irgendwo will man als Autor das „Show, don’t tell“-Prinzip immer konsequent durchziehen und ist dann der Meinung: „Naja, der Leser sollte halt aufpassen, dann versteht er den Charakter auch“, aber in Wirklichkeit ist der Leser in der Regel nur halb so aufmerksam, wie es der Autor gerne hätte, weshalb ein bisschen „erzählen“ nicht schlecht ist, wenn man ein gutes Beispiel hinterher auch „zeigt“, wie du es eben mit dem Bären getan hast. Ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine… wie gesagt, ich sitze da im selben Boot.
Davon abgesehen ist der Beitrag sprachlich echt toll gelungen und flüssig/angenehm zu lesen.
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Vielen Dank für Deinen langen Kommentar! Merci beaucoup! Und natürlich hast Du auch wieder recht, zumal zu den neuen Akteuren ja außerdem eine fremde, zu erklärende Welt hinzukommt!
Andererseits: Wenn Du bereits im zweiten Abschnitt Mike als Figur erahnen kannst, ist mein Ziel schon erreicht. Wir lassen uns viel zu stark von angeblichen „Regeln“ leiten, die dem Leser angeblich „helfen“ sollen. Ich meine, meine Güte, wie sieht denn die erste Szene von Thomas Manns „Buddenbrooks“ aus? Jeder wird dort von der Figurenfülle erschlagen, höchstens Toni als Charakter deutlich. Ähnliches gilt für Dostojewski und hundert andere. Also: Unterschätzen wir unsere Leser nicht vielleicht doch? Es ist ein Roman, da braucht man nicht sofort alles und jeden zu begreifen. Die Alternative wäre, nacheinander die Figuren, Stück für Stück, einzuführen – und das scheint mir langweilig. Will sagen: Wenn ich die „Buddenbrooks“ anfange, bin ich natürlich völlig überfordert. Aber das macht mir doch nicht viel aus! Ich lese weiter, weils mir gefällt, weil die Sprache gut klingt, weil Spannung da ist oder was auch immer – und weil ich darauf vertraue, dass der Autor mir schon weiterhelfen wird.
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