Seit drei Wochen ist diese Webseite online, die ersten Follower folgen, in der Kommentarfunktion wurde noch nicht kommentiert, der Zugriff auf die Seite ist eher minimal – der übliche Lauf eines neues Blogs, der sich im großen Schwarm ähnlicher Projekte erst behaupten lernen muss.
Aber über Ein-Buch-wie-Kings-Turm möchte ich heute gar nicht reden. Dieses Tagebuch soll ja nicht nur die Schritte des Schreibprojekts nachverfolgen, sondern auch Einblick gewähren in den Alltag eines Schriftstellers. Und der wird gerade – wieder einmal – geprägt von der Merkwürdigkeit unserer Existenz, genauer: vom Spannungsfeld zwischen Individualität und (Um-)Welt. Ich meine natürlich das gestern in Hannover abgesagte Länderspiel, die Terroranschläge in Paris, all die aktuellen Nachrichten zwischen Angst und Rache. Denn wie seltsam ist das? Jeder von uns versucht sein Leben so gut und reich zu gestalten wie möglich, jeder von uns strengt sich an jenen Weg zu gehen, den er selbst gehen möchte, gehen muss. Jeder von uns träumt von der eigenen Selbstverwirklichung, von einem sinnvollen Sein. Egal ob der Schwerpunkt dieses Weges auf der Familie liegt oder der Karriere, auf Reichtum, Freundschaft, Glück oder Körperbewusstsein – jeder von uns hat (wenigstens) ein Ziel und versucht es zu erreichen. Manche schaffen das leicht und mit Grandezza, andere müssen sich abstrampeln; viele scheitern, die meisten gehen zwangsläufig massive Kompromisse ein, nur wenige haben großen Erfolg. Wichtig ist letzterer nicht unbedingt – weder Kafka noch van Gogh verdienten zu ihren Lebzeiten Geld mit ihrer Kunst. Wichtig ist nur: Jeder von uns arbeitet auf die Verwirklichung seines individuellen Wesens hin.
Und dann passiert etwas, draußen in der Welt: ein tragisches ICE-Unglück, ermordete Babys, Umweltkatstrophen wie Flutwellen oder Vulkanausbrüche, Krankheits-Epedemien wie Ebola, Radioaktivität verstreuende Atomkraftwerke. Und Terroranschläge in Europa.
Das reißt mich aus meinem individuellen Traum. Das zwingt mich, den Sinn und Wert meiner Ziele zu überdenken: Was für ein Unfug, Zuhause am Computer zu hocken und Geschichten zu schreiben! Was für eine Arroganz, ästhetische Werte hochzuhalten, zu komponieren oder zu malen! Was für eine Überheblichkeit, meinen neuen Roman für das Zentrum der Welt zu halten!
Ich überdenke also mein Leben, klopfe meine Ziele und Werte ab.
Und komme natürliche zu dem Schluss, muss zu ihm kommen: Es ist gut, was du tust.
Diesem Denken liegt nicht nur der Egoismus des Künstlers zu Grunde, der sein Werk über alles andere stellt. Dieses Denkergebnis hat auch nicht bloß mit unserer üblichen Verdrängungstaktik zu tun: Ich meine, tagtäglich sterben in Syrien wahrscheinlich mehr Menschen als bei den Attentaten in Paris – dennoch gelingt es mir ziemlich gut, diesen Fakt einfach wegzuschieben. Wie auch nicht? Kein Individuum kann die Welt retten, kann sich um alles und jeden kümmern. Ich bin verantwortlich für mich, nicht für alle anderen. Ich kann nur versuchen, in meiner Umwelt moralisch zu handeln, so klein und eingeschränkt sie auch sein mag.
Bei Künstlern kommt im Rahmen dieser ständigen und allgemeinen Selbst-Besänftigung ein weiteres Argument hinzu: Ich kann die Welt zwar nicht retten, aber mit meinem Werk zu verbessern trachten. Als Maler kann ich Schönheit entstehen lassen, Farben und Formen, die anrühren und den Menschen trösten (wer je da Vincis „Abendmahl“ vor Ort in Mailand gesehen hat, weiß was ich meine). Als Musiker kann ich Klänge erschaffen, die in die Seele der Menschen direkt und augenblicklich hinein gehen. Und als Schriftsteller kann ich Geschichten erzählen. Geschichten, die neue Möglichkeiten aufzeigen, wie etwas Thomas Morus’ „Utopia“. Geschichten die demaskieren und kritisieren wie Klaus Manns „Mephisto“. Geschichten die uns berühren und unsere Phantasie stärken wie Michael Endes „Unendliche Geschichte“.
Und so stehen – nicht nur aber vielleicht besonders stark – die Künstler jeder couleur im Spannungsfeld von Individualität und Welt. „Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig“ – wer hat das noch einmal gesagt? Ach ja, dieser Künstler hier:
Wohl wahr. Trotzdem unheimlich. Wie das Ganze eben. Die Welt.
In diesem Sinne.
Herzlich
Ihr und Euer
Simon Segur