1. Kapitel, 1. Szene

TEIL 1: DIE MS COHIBA

Kapitel 1

Das Eis brüllte. Es schnitt in seine Ohren hinein und kratzte in seinem Kopf herum – irre Krebsscheren aus Lärm. Jeden Abend, wenn die Temperatur bei Sonnenuntergang stürzte und fiel, wenn die angetauten Schollen wieder festfroren, brüllte das Eis auf. Weiß und blau und gequält. Das Eis schrie in der Dämmerung, während Simon Segur nur schweigen konnte – so lange, wie der erstarrte Ozean in seinem Kopf kreischte.
Schmerz, dachte Simon, hat viele Verkleidungen. Das schreiende Eis vor ihm. Die Faust eines Gegners im Gesicht. Die Fingernägel einer Frau beim Liebesspiel. Oder Francis, sein Freund Francis, direkt neben ihm, hier auf dem Deck der MS Cohiba. Francis, der sich in der anbrechenden Nacht den Bauch hielt, sein in der Kälte dampfendes, aus dem Unterleib weinendes Blut festzuhalten suchte. Simon aber konnte nur bei ihm sitzen. Nur die Hände an die Ohren drücken um das brüllende Eis zu dämpfen.
Schmerz, dachte Simon Segur noch einmal. In welcher Verkleidung er auch kommt, seine Rolle ist immer dieselbe: Er tut weh.
Auch die MS Cohiba stöhnte unter dem Druck der Eismassen, quietschte zurück in die leere Kälte. Das Schiff, schon längst ein Kadaver, verabschiedete sich jeden Tag ein Stück mehr von der Welt. Knarrend und winselnd.
Genau wie Francis.
Den hatte eine Wolke Mykros erwischt. Ein Mückenschwarm Tod, der sich durch die Augen in den Körper fraß, sich mästete und fett wurde, bis schließlich die Bauchdecke des Opfers aufplatzte. Widerliche Viecher, diese Mykros, und sehr effizient was das Töten anging: noch hundert Atemzüge nach Befall, dann war Schluss. Francis, seinem Freund Francis, blieben vielleicht noch fünfzig, bis der letzte kam.
Du musst dich um ihn kümmern, dachte Simon Segur. Ihm beistehen. Na los, Mârin, dreh dich um!
Er rührte sich nicht. Ließ sich beißen vom Lärm des gefrorenen Meeres. Starrte in das Feuer der Dämmerung, orangerot im Westen, zersplitternd in der Eiswüste. Eis. Ein gefrorenes Meer, eine gefrorene Welt.

Francis, dieser Idiot, dachte Simon. Lässt sich killen von einem Mückenschiss.
Immer noch starrte er über die Reling. Die Farben am Himmel verblassten und verdickten sich. Aus Rot wurde Lila, aus Lila Dunkelblau, aus Blau ein Nachtschwarz mit Sternentupfern. Noch einmal glühte das Eis auf, in einem hellen Blaugrün, bevor es sich verschattete und endlich leiser wurde. Simon hörte ihm zu, bis er seine Hände von den Ohren nehmen konnte. Sich umdrehte.
Francis, auf dem eisverkrusteten Deck gekrümmt, sich selbst festhaltend, verzog seine Lippen. Und schaffte die Fratze eines Lächelns.
Er ist schon tot, dachte Segur und beugte sich über ihn. Roch die Abschlussnote des Menschen – Schweiß, Angst, Blut – und drückte Francis Hand.
Sanft.
„Wenigstens“, sagte er, „hat dich die Medusa nicht erwischt.“
Francis lachte, ein Geräusch zwischen Husten und Schrei. Spuckte Blut. „Wo … die anderen?“, keuchte er.
„Keine Zeit.“ Simon schüttelte den Kopf. Von hundert Atemzügen jetzt nur noch vierzig.
Wieder lachte Francis, wischte sich rote Spucke von den Lippen. „Du warst“, krächzte er, „immer der … kälteste Fisch im Becken.“ Ein neuer Bluthusten. „Simon Segur … Der Mârin ohne Gefühl. Berechnest die Zeit … entscheidest, bleibst oder gehst. Und die anderen wissen nicht … dass ich verrecke.“
Francis packte Simons Hand fester, hielt das letzte Stück Leben, dass seine Finger noch erreichen konnten.
Ein Husten.
Winselndes Eis, ein knarrendes Schiffswrack und ein hustender Freund.

Noch zwanzig, überlegte Simon. Höchstens. Es war Zeit.
Aber Francis kam ihm zuvor. Nickte nur und begann leise: „Den Frieden zu wahren …“ Mit dem Blut aus seinem Bauch strömten nun die gesättigten Mykros aufs Deck – zuckend und sterbend auch sie. Francis sah sie nicht. Redete weiter: „… gerüstet zum Streit …“.
Segur beugte sich noch ein Stück vor, näher an den Aasgeruch von Blut, näher zu Francis‘ Augen, und stimmte in den uralten Eid der Seelords mit ein: „… Mit flatternden Fahnen im eisernen Kleid.
Gemeinsam brachten sie flüsternd den Kodex einer vergangenen Zeit zu Ende: „… So tragt ihr Schiffe von Meere zu Meer, die Botschaft von uns, den Frieden umher. Dreimal Aye, Kap’tai, dreimal Weh, die See.
Francis bäumte sich auf. Seine Augen weiteten sich, sahen in die Nacht, ins Schwarz. Wurden blind. „Einmal ein Mârin …“, keuchte er.
Der letzte von hundert Atemzügen.
„… immer ein Mârin“, schloss Simon für ihn.
Ein Zucken: Die Bauchdecke seines Freundes schmatzte, schüttete Blut und Mykros auf das gefrorene Deck der MS Cohiba.
Simon drückte tote Augen zu. Strich über vor Entsetzen verkrampfte Lippen. Oder war es Erleichterung, Müdigkeit?
Pathos, dachte Simon. Der letzte Nagel, an dem wir noch hängen. Nichts bleibt sonst, um aufrecht zu stehen, Pathos bis zum Sterben, furchtbar und lächerlich zugleich.
Seine Finger zitterten, als er durch die bereits wieder festfrierende Blutlache strich und die aufgeblähten Mykros spürte wie Sandkörner. Auch sie waren tot. Ein Schlaraffenlandsterben: Fressen bis man platzte. Woher kam dieses Wort – Schlaraffenland? Kannte Simon es von früher? Wenn ja, von welchem? Verfluchte Zeit, verfluchte Leere dort, wo Erinnerungen hätten sein müssen.
Mit Daumen und Zeigefinger puhlte er eins der Mykros hervor, rollte es mühsam zwischen kältestarren Fingern und hielt sich das tödliche Korn schließlich nah vor die Augen. Metall. Eine Maschine. Aber auch dieses Wort war nicht mehr als eine Hülse: Er hatte nichts, um sie auszufüllen. Ja, auch die MS Cohiba war eine Maschine, war ein Schiff, ein Boot, ein schwimmendes Ding aus Metall. Eisen? Stahl?
Simon wusste es nicht. Die Erde hatte einen Schubs bekommen, und die Erinnerungen der Menschheit mit ihr.
Segur drückte sich hoch, streckte seinen Körper, so dass die Luft ihm ins Gesicht schneiden konnte: ein kaltes und scharf gewetztes Messer. Ein sprechendes Messer, denn immer noch klagte leise das Eis.
Aber nicht um Francis.

Simon Segur ließ ihn liegen, er konnte nichts tun. Rutschte über das gefrorene Deck, stieg die Gangway hinab und fragte sich, aus welchem Grund, bei allen Teufeln der See, das Eis wohl sonst jammern mochte. Er zerrte das mit Frost überzogene Schott auf, reckte sein Gesicht noch einmal in die Luft, kassierte die Ohrfeigen des Windes und stieg hinunter zur Messe.
Zu den anderen.

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8 Gedanken zu “1. Kapitel, 1. Szene

  1. Gefällt mir. Ich finde es sogar richtig gut. Aus dem Unterleib weinendes Blut. Das mit dem Schmerz und noch drei bis vier andere Formulierungen stechen total hervor, ich hab sie wiederholt gelesen. Dieses mit Worten jonglieren – Respekt.
    Zwei Fehler sind mir aufgefallen, lektorierst Du selbst?

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    1. Freut mich. Ich liebe halt die Wörter, ist irgendwie wie tanzen, nur nicht mit Musik und Partner, sondern Buchstaben und Worten 🙂
      Ja, ich lektoriere selbst – über Fehlermeldungen wäre ich (nicht nur) deshalb sehr glücklich.

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      1. Tanzen … nicht schlecht. Jedenfalls ist zu lesen, dass Du mit Leidenschaft schreibst.
        Im ersten Satz: kratzte statt kratze, Und: Du musst dich zu ihn kümmern, dachte …
        Ich finde es noch etwas schwierig, das nächste Kapitel gleich im Anschluss zu finden. Das waren meine Anmerkungen 😉

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  2. Hey, vielen Dank. Auch noch im ersten Satz – wie peinlich ist das denn! Wurde jedenfalls gleich geändert.
    Was meinst Du mit „schwierig, das nächste Kapitel“ zu finden? Die Szenen lassen sich nacheinander im Menü-Punkt „Der Text“ anklicken – oder etwa nicht? Davon abgesehen werde ich demnächst den Text als PDF und E-Book-Datei einstellen und alle paar Wochen um die neuen Szenen akualisieren. Lange lesen am Bildschirm macht nicht wirklich Spaß …
    Noch mal Denke für die Mühe!

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      1. Gute Idee mit der Verlinkung auf die direkte Fortsetzung – werde ich wohl machen 🙂
        Ja, wie Vorbild-King plane ich eine Reihe, mindestens drei Bücher (obwohl ich Trilogien im Fantasybereich hasse), und habe den großen Bogen für diese drei. Relativ genau ist der Plot freilich nur für Band 1 …

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  3. Wow, ein sehr ambitioniertes Projekt, gleich mit einer Trilogie anzufangen. Ich finde es echt gut geschrieben, ich glaube, mittlerweile hast du alle Rechtschreib- und Grammatikfehler ausgemerzt, ich finde jedenfalls keine mehr. Inhaltlich empfand ich einige Formulierungen als „zu gewollt“ und fast schon unfreiwillig komisch: „Schmerz, dachte Simon Segur noch einmal. In welcher Verkleidung er auch kommt, seine Rolle ist immer dieselbe: Er tut weh.“ – ich habe unwillkürlich schmunzeln müssen, als ich z.B. diesen Satz gelesen habe. Das ist zwar absolut subjektiv und jemand anderes mag den Satz vielleicht nicht als ein versehentlich humoristisches Element wahrnehmen, aber ich wollte dich einfach mal mit meinem Leseerlebnis konfrontieren.

    Dennoch – sehr intensiv geschrieben, sehr atmosphärisch. Du hast schon von Pathos geschrieben. Ja. Trieft geradezu davon. Etwas zu viel für meinen Geschmack, aber ich werde trotzdem auf jeden Fall weiterlesen.

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    1. Lieber Sam,
      danke für Deinen Kommentar, dem ich sehr recht gebe: Das Spiel mit Pathos ist ein sehr schwieriges. Aber ich mag’s irgendwie. Die Wucht der Streicher bei Filmmusik, wenn der Held knurrig die Welt rettet, der Sprung über den tödlichen Abgrund, das minutenlange, von einer Arie egleitete Sterben des Heldentenors in der Oper – großartig. Berührend. Aber die Balance zu finden zwischen Pathetik und Kitsch (oder noch schlimmer: unfreiwilliger Komik) ist schwer. Und grad am Anfang ist’s vielleicht wirklich zu viel. Aber ich werde im Laufe der Zeit sicher noch einiges ändern.
      Ich würde mich freuen, wenn Du mir weiter Feedback geben könntest und würdest – vielen Dank!

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